Der kleine Fluechtling
Bürgermeister von Neuhausen einen Vorwurf dafür machen, dass er Wolli der Einfachheit halber bei Max verstaut hatte? Der geplagte Bürgermeister hatte schlicht keine Zeit, sich um die Bedürfnisse jedes einzelnen Flüchtlings zu kümmern, denn die Schlesier, Sudetendeutschen und deutschstämmigen Böhmen rollten lastwagenweise heran.
Wolli bei Max unterzubringen hieß, zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen. Einerseits war der Bürgermeister den Buben los, der ihm eine Menge Scherereien in Form von Berichten und Anträgen eingebracht hätte. Andererseits konnte er Max damit entgegenkommen (es würde ja gewiss nicht schaden, beim Finanzamt eine Gefälligkeit offen zu haben), denn mit Wolli war Max der Nachweis verschafft, dass er, wie vorgeschrieben, Wohnraum für Vertriebene zur Verfügung stellte.
Natürlich hatte sich der Bürgermeister abgesichert und vorsichtshalber eine kurze Notiz über Wolli ans Rote Kreuz abgeschickt – ein Schrieb, der wohl nie ankam.
So viel Verborgenes aus Neuhausen Wolli auch ans Licht zerrte, so wenig hatte er zu bieten, wenn Rita von ihm wissen wollte: »Wann hast du denn deine Mama zuletzt gesehen? Deinen Papa? Wann denn, wo denn?«
Auf solche Fragen schwieg Wolli und mümmelte versunken an einer Rübe, einem Radieschen, notfalls an einem Holzspan. Was hätte er auch antworten sollen? Einen Papa hatte Wolli nie gekannt. Und die Mama war weg. Sie war in einer Explosion aus Spektakel verschwunden. Manchmal hatte sie Wolli im Traum besucht, aber Woche für Woche war sie seltener gekommen.
Wollis Unterbewusstsein schien auf Hochtouren daran gearbeitet zu haben, sämtliche Erinnerungen auszumerzen: die beklemmenden Stunden in der Garnkiste, das Trampeln schwerer Stiefel, die Laute qualvollen Wimmerns, den Klang dumpfer Schläge. Auch die gespenstischen Tage im Vorratslager des Dominium, das Rumpeln des polnischen Fuhrwerks, die Wochen auf dem tschechischen Krankenlager waren der Zensur in Wollis Hirn mehr oder weniger zum Opfer gefallen.
Der Name »Habendorf« hätte womöglich gar keine Erinnerung mehr in ihm geweckt. Und nie sollte er erfahren, dass seine Mutter Marie Wänig und ihr Vater, der alte Weber, unter dem Schutt der ehemaligen Friedhofsmauer von Habendorf begraben lagen. Die polnische Familie, die das herrenlose Häuschen der Wänigs zugesprochen bekam, hatte sie dort verscharrt.
Wollis Erzeuger brauchte in Wollis Hirn nicht ausgetilgt zu werden, denn Wolli hatte ihn nie gekannt. Trotzdem gab es ihn, und er befand sich schon seit gut einem Jahr in Niederbayern.
Er war Tischler Scheller an jenem Weihnachtstag 1944 entkommen und unbehelligt wieder aus Habendorf hinausgelangt. Diese für ihn selbst recht günstige Entwicklung der Dinge sollte für andere bald fatale Folgen haben.
Wollis Erzeuger floh, wie damals nach Wollis verbrecherischer Zeugung, über die Felder und Äcker nach Langenbielau. Dort traf er prompt auf HSSPF Benz, der eben dabei war, seine versprengten Kameraden um sich zu sammeln und neu zu formieren.
Frisch geeint und angespornt eilte die »Sturmtruppe Benz« nach Nordwesten, um erst einmal Abstand zwischen sich und die Rote Armee zu bringen. In der goldenen Aue am Fuße des Kyffhäusergebirges blieb sie allerdings hängen. Darüber verging der Frühling des Jahres 1945.
Als dann im Mai der Exitus des Dritten Reiches offiziell bekannt gegeben wurde, hatte Benz noch ein gutes Dutzend Runenträger vom alten Polizeibataillon 101 um sich, stand jedoch – quasi von einem Tag auf den andern – vor einer gegensätzlichen Prämisse und damit vor einer neuen Herausforderung. Denn nun galt es überzeugend zu leugnen, dass ein Bataillon 101 je existiert hatte. Es sollte auf einmal nur noch biedere Familienväter mit sauberen Westen und ehrbaren Namen geben und seit jeher gegeben haben.
Benz ging die neue Herausforderung mit Nachdruck, aber zugleich mit der gebotenen Vorsicht an. Er horchte und tastete, hielt die Nase witternd in den leisen Wind, der dienliche Botschaften heranblies.
So erfuhr er, dass man da und dort auf Hilfe zählen konnte. Man musste nur wissen, wo. Aber auch das blieb ihm nicht lange verborgen. Benz konnte aufatmen. Die Parole, die man ihm hinter vorgehaltener Hand genannt hatte, würde den Verfolgten und Gejagten der ehemaligen Schutzstaffel Unterkünfte und Schleichwege auftun.
Natürlich war Benz nicht so unbesonnen, sich und die Seinen jetzt vorschnell in Sicherheit zu wiegen. Er blieb am Ball und gelangte tatsächlich recht
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