Der kleine Fluechtling
Stecken trug ein gipsernes Kugelköpfchen – lauter kleine Ulrich-Abbildungen.
Die Kumpels grinsten und nickten, sahen die Entsprechung und stimmten dem Spitznamen »Gipskopf« für Ulrich zu.
Wenig später aber wandelten sie ihn ab, und das war den Fahrtenmessern zu verdanken, für deren Herstellung Ulrich ein brillant-schlichtes Rezept ersonnen hatte: Man nehme ein scharf geschliffenes, flaches Stahlplättchen (vorzugsweise unbekannter Herkunft) und montiere es feststehend (vorzugsweise unter Verwendung von zwei alten Schrauben) in einen abgesägten Gewehrlauf (vorzugsweise aus den Beutestücken vom Hafen). Die Idee war so simpel, dass sich der Rest der Hafenbande wiederholt fragte, warum man da nicht selbst draufgekommen war, aber eben das war ja das Brillante daran.
Ulrichs Messer schnitten vortrefflich durch zähe Baumrinde und brüchiges Leder, glitten butterweich durch geklaute Runkelrüben und durch störrische Knorpel. Das Beste an der Konstruktion war jedoch, dass die Klinge notfalls ruck, zuck ausgewechselt werden konnte.
Letztendlich machte die Erfindung des Fahrtenmessers aus Ulrich dem Gipskopf – Ulrich den Gripskopf.
Ulrich hatte nicht wirklich damit gerechnet, dass ihm seine Talente bei der Hafenbande in solchem Maße Geltung und Ansehen verschaffen würden. Plötzlich verfügte er über Profil. Und das hatte er bei all den Demütigungen auch bitter nötig – den vergangenen Demütigungen und denen, die noch kommen sollten.
Die jüngste Diskriminierung lag ihm noch schwer im Magen: Man hatte ihm den Eintritt in die katholische Knabenschule verweigert. Denn im rechtgläubigen Niederbayern wurde die Spreu vom Weizen akribisch getrennt. Kein lutherisch-ketzerischer Abweichler durfte sich in die fromme Lämmerherde drängen, die sich der Vatikan hielt.
Für Ulrich und Anton fand der Unterricht deshalb in der verwaisten Neuhofkaserne statt.
Die ehemaligen Insassen jener Kaserne waren überwiegend tot; ein paar hatten das Sterben kurz vor sich – in Sibirien oder irgendwo auf einem Krankenlager; nur ganz wenige waren in ihr Vorkriegsleben zurückgekehrt.
Ulrich und Anton und noch ein paar weitere der regulären Schulbank verwiesene Irrgläubige mussten sich morgens vor dem mittleren Kasernenblock aufstellen und der Ankunft von Lehrer Kuchler entgegensehen, der Punkt acht die grün lackierte Tür aufschloss.
Auch Kuchler war – wie seine Schüler – ein Verfemter.
Als die Stadt im Frühjahr 1946 für die katholischen Knabenschule wieder Lehrer einstellte, hatte Kuchler in heiliger Einfalt geglaubt, er könne sich – nach Kriegsdienst, Gefangennahme und Freilassung – ohne weitere Diskussion wieder auf denselben Stuhl ans Lehrerpult setzen, den er Anfang 1940 so abrupt hatte verlassen müssen. Ein winziges Quäntchen gesunder Menschenverstand hätte ihm jedoch sagen können: Kuchler, daraus kann nichts werden!
Dass sich der früher geschätzte Lehrer auf einmal geächtet sah, lag jedoch nicht an seinem im Krieg erworbenen Gebrechen, obgleich es ihn dazu zwang, beim Gehen mit dem einen Arm an der Wand entlangzuschleifen, um nicht wie ein Betrunkener zu torkeln (Kuchler war der Balance beraubt, weil er sich im Januar 1945, während der sowjetischen Winteroffensive, die beiden großen Zehen fürs deutsche Vaterland abgefroren hatte).
Man hätte Kuchler durchaus nachgesehen, dass er, weil zu wenig standfest, als Pausenaufsicht im Katholikengetümmel nicht mehr in Frage kam. Man hätte sogar sein Schlurfen und Wischen in Kauf genommen, das ihn in den Schulhausgängen stets viel zu früh ankündigte und den Schülern die notwendige Zeit gewährte, jedweden Unfug einzustellen, bevor er sie dabei erwischen konnte.
Doch die Kollegen – ebenso wie die Schulleitung – konnten und wollten nicht entschuldigen, ja nicht einmal tolerieren, dass Kuchler, kaum aus dem Gefangenenlager entlassen, vor einem fränkischen Standesbeamten eine Lutherische geehelicht hatte, ein Flüchtlingsweib aus dem Ostpreußischen.
Jener Frevel war es, der Kuchler aus der katholischen Knabenschule verbannt und ins Ghetto der Neuhofkaserne gestoßen hatte.
Dort saß er jetzt vor einer Handvoll lutherischer Böhmacken und lehrte sie, höchst seltsame Fragen zu stellen.
Zum Glück interessierte sich der Schulrat keinen Deut für Kuchler und für das, was er seinen Schülern beibrachte, denn sonst hätte er ihn keine Minute länger unterrichten lassen, nicht im Neuhof und auch sonst nirgends. Kuchler war nämlich drauf und
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