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Der kleine Fluechtling

Der kleine Fluechtling

Titel: Der kleine Fluechtling Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jutta Mehler
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die so groß und schwer waren, dass selbst vereinte Kräfte sie nicht von der Stelle zu bewegen vermochten.
    »Hörts auf mit dem Gezerre!«, sagte Gerhard. »Wegschaffen können mir die sowieso net.«
    Er hatte ja recht, aber ansonsten gab es einfach nichts Verwertbares mehr im Hafen. Das Terrain war seit Langem gefilzt wie eine Brombeerstaude im Herbst.
    Die Buben gaben den Trümmern noch ein paar verdrossene Boxhiebe, dann schrieben sie die Sache ab, traten von einem Fuß auf den anderen und redeten so hin und her. Schließlich gab Gerhard zum Besten, wie er dieser Tage einen Strolch aus dem Laden seiner Tante verjagt hatte.
    »Einen Arschtritt hab ich dem Ratzengfries geben«, berichtete er, »einen saftigen Arschtritt. Das Früchterl lasst sich gwiss nimmer blicken …«
    Ulrich hatte nicht richtig hingehört, weil er glaubte, dass Gerhard bloß wieder eine seiner Angebergeschichten loswerden wollte, die oft nur halbwegs mit der Wahrheit übereinstimmten. Aber plötzlich hatte sich der Ausdruck »Ratzengfries« in Ulrichs wandernde Gedanken geschlichen.
    »Rattengesicht«, übersetzte er und sah auf einmal einen vergrößerten Wolli Wänig vor sich. Darauf, ob es sich tatsächlich um den Jungen aus Habendorf handeln könnte, verschwendete er jedoch keinen einzigen Gedanken, weil ihm ein ganz anderer Einfall kam: Haben nicht ziemlich viele Menschen ein Merkmal, überlegte er, das sie deutlich kennzeichnet?
    Diese Frage brachte ihn auf die Idee, den Freunden eine Art Spiel vorzuschlagen.
    »Mecht mer was ausprobiern«, sagte er und begann die Spielregel zu formulieren.
    Auf den Punkt gebracht, lautete sie so: Finde für jeden deiner Kumpels einen Namen, der ihn so treffend beschreibt, dass alle anderen auf Anhieb wissen, wer gemeint ist.
    Die Sache schlug voll ein. Das Gebrüll der Hafenbande wogte bis zur Friedenseiche.
    Gerhard schrie Anton an, weil er sich »Kracherl« nicht gefallen lassen wollte, Ulrich stauchte Walter zusammen, weil »Böhmack« nicht galt, und damit basta; Anton röhrte, dass Walter die Spielregel sowieso nicht kapiert habe.
    Nach mehreren Durchgängen beschlossen sie, dass jeder den Namen, der ihn am besten charakterisierte, als Spitznamen behalten sollte.
    Bei dem vierschrötigen Walter Grans, dessen Zerstörungstrieb Ulrichs Zupfgeige zuvor fast zum Opfer gefallen wäre, kam »Bulli« ebenso in Betracht wie »Panzer«, deshalb bekam er als Einziger einen Doppelspitznamen. Paul sollte den Namen »Sabe« behalten, obwohl auch »Langfinger« zur Debatte stand. Gerhard lehnte jede andere Bezeichnung als »Chef« kategorisch ab und setzte sich damit durch. Denn Gerhard würde wohl zeitlebens ein Chef bleiben. Eines fernen Tages würde er wohl seinen Onkel beerben, und dann würde sogar der Braumeister »Chef« zu ihm sagen müssen.

6
    »Nu fährste auf de Mühlbach zu de Donau, und auf de Donau fährste zu de Schwarze Meer.«
    Ulrich setzte den Papierdampfer ins Wasser des Mühlbaches und fragte sich, weshalb er so einen idiotischen Kinderkram aufführte. Damals in Habendorf hatte er mit Anton zusammen die »Bismarck« gebaut, aus bestem Leimholz, originalgetreu samt Flagge und Geschützreihe. Er hatte mit seinem Bruder einen Zeppelin gebastelt und eine Ju 88. Heutzutage ließ er Papierschiffchen schwimmen, als wüsste er nicht fachmännisch mit Holz, Metall und den entsprechenden Werkzeugen umzugehen.
    In Wahrheit hatten sich die Fähigkeiten der Scheller-Jungen seit den Habendorfer Tagen gleich mehrfach potenziert. Zwangsläufig, denn Not macht erfinderisch. Auch die Hafenbande wusste Ulrichs Talente schon seit Langem zu würdigen.
    Bei der legendären Namensgebung hatten die Kumpels nach irrem Gebrüll von Anton und mächtigem Fußaufstampfen von Ulrich das verhasste »Böhmack« endgültig fallen lassen.
    Daraufhin hatte Gerhard hinsichtlich Ulrich für »Gipskopf« plädiert und damit befremdetes Schweigen hervorgerufen, das in breites Grinsen überging, nachdem er erklärt hatte, wie er auf den Namen gekommen war.
    Immer wenn ihm Ulrichs kugelrunder Kopf auf seinem dünnen Hälschen unter die Augen komme, müsse er an den Hutladen neben dem Straubinger Röhrlbräu denken, vor dessen Schaufenster er einmal auf seinen Onkel Keisling gewartet habe.
    Gerhard hatte zugeschaut, wie die Auslage des Ladens neu dekoriert worden war. Die alten Hüte waren bereits weggeräumt, die neuen lagen noch auf der Ladentheke. In der Auslage befand sich nichts als ein Wald dünner Holzstecken, und jeder

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