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Der kleine Fluechtling

Der kleine Fluechtling

Titel: Der kleine Fluechtling Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jutta Mehler
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Stapeln der Kisten waren Gerhard und seine Kumpels zuständig, die es beim Bau von Kistentürmen zu beneidenswerter Perfektion gebracht hatten.
    Eine standfeste Turmkonstruktion setzte allerdings voraus, dass vor der Bauphase beschädigtes Material aussortiert wurde. Nur einwandfreie Kisten durften Gerhards Kontrollstation passieren. Alles Wacklige kam unter Bullis Hammer. Bulli nagelte wieder fest, was noch Halt finden konnte, und zerstörte, was unwiderruflich aus dem Leim gegangen war.
    Ulrich schielte zu dem Holzhaufen hinüber, der jetzt, kurz nachdem sie mit der Arbeit begonnen hatten, noch so winzig aussah wie ein Maulwurfshügel. Er würde zwar proportional mit Höhe und Anzahl der Kistentürme anwachsen, aber Ulrich fragte sich, ob er groß genug werden würde, dass jeder von ihnen einen Arm voll Brennholz mit nach Hause nehmen konnte.
    Manchmal schummelte Bulli ein bisschen und zerschlug, was eigentlich noch zu retten gewesen wäre. Manchmal schob Sabe ein halbwegs gut erhaltenes Kistchen unter seinen Plattfuß, verlagerte das Gewicht drauf und belastete es, bis die Bretter knirschten und splitterten und reif für den Brennholzhaufen waren.
    Ja, mit etwas Glück würde es heute Abend im Ofen der Scheller’schen Baracke lustig knistern.
    Die Flüchtlingsbaracken reihten sich nah aneinander am Mühlbachufer auf.
    Die erste von den sechs Nissenhütten stand quasi mit einem Bein noch auf Keisling-Grund. Die dritte, von den Schellers bewohnt, befand sich genau im Scheitelpunkt des Mühlbachbogens.
    Ulrichs neue Behausung stank penetrant nach Katzenpisse und Kadaver. Putzen nützte da nichts. Lüften auch nicht. Der Gestank fraß jeden frischen Hauch. Die Schellers mussten ihn hinnehmen, denn eine andere Bleibe gab es nicht. Das Zeltlager im Kolpingsaal war bereits abgebaut, der Saal sollte renoviert werden.
    In der zweiten Woche nach dem Umzug trug es sich zu, dass Sabe durch die Wellblechwand rief:
    »He, Scheller-Gripskopf, komm außer aus deiner Nissenhütten, der Chef braucht Sacklträger für die Keisling-Brauerei. Für jeden, der was tragt, gibt’s eine Tüten voll Gerstenkörndl.«
    Ulrich stürmte aus der Baracke und rannte mit wirbelnden Fäusten auf Sabe zu. »Was, wie haste die Unterkunft genennt?«
    Sabe duckte sich weg. »Der Lehrer, der Lehrer Rimböck sagt, die heißn so.«
    Ulrich lief zornrot an und erlitt einen heftigen Rückfall ins Niederschlesische, das sich allerdings als nicht mehr ganz lupenrein, sondern eindeutig als bairisch infiltriert offenbarte.
    »Dächt der, mer sin von Läus abgestammt? Mecht der uns am liebsten aso derbazen als wie a Laus? Wird er aber gitigst verzeihn missen, der Lehrer Rimböck, dass mer keene Läus nit sin.«
    Ulrich geriet mehr und mehr in Rage. Er hüpfte auf und ab wie Rumpelstilzchen und titulierte Lehrer Rimböck mit allen Schimpfnamen, die ihm in den Sinn kamen: »Fiesling, Blödhammel, Hornochse …«
    Er war noch längst nicht fertig, als ihm auffiel, dass Sabe fort war.
    Ulrich stutzte. Dann fiel ihm ein, dass es im Moment wahrlich Wichtigeres zu tun gab, als Lehrer Rimböcks Bosheiten zu erwidern. Er fegte hinter Sabe her, holte ihn im Brauereihof ein und stellte sich mit ihm bei dem Karren auf, der abgeladen werden sollte.
    An diesem Nachmittag arbeitete Ulrich schwer, schleppte Sack für Sack ins Vorratslager der Brauerei. Befriedigt kehrte er mit einer großen Tüte voll Gerstenkorn in die Baracke zurück – Suppe und Fladen für mindestens zwei Tage.
    Trotzdem, die Bezeichnung »Nissenhütte« für die Flüchtlingsbehausungen wollte ihm nicht aus dem Kopf. Musste man Lehrer Rimböck das durchgehen lassen? Ulrich beschloss, Kuchler danach zu fragen.
    »Durchaus«, antwortete Kuchler, »die Baracken heißen nach ihrem Erfinder.«
    »Einer Laus?«
    »Peter Nissen!«, erwiderte Kuchler. »So hieß der englische Offizier, der Wellblechbaracken als Unterkünfte für seine Soldaten bauen ließ. Nachdem die Soldaten im Frühjahr 1945 in ihre Häuser zurückgekehrt waren, hatte in England niemand mehr Verwendung für die Hütten. Also beschloss die Militärverwaltung, sie den Deutschen zu schenken. Im November ’45 wurden zweitausendzweihundert Nissenhuts für Ausgebombte nach Hamburg geliefert. Die Menschen dort hätten den Winter sonst nicht überstanden. Die Nissenhütten gaben ihnen vier Wände und ein Dach. Man konnte auch ein Öfchen darin anheizen, falls irgendwo Brennstoff aufzutreiben war.«
    Auf welchem Weg sechs der Nissenhütten an den

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