Der kleine Fluechtling
Mühlbachbogen in Deggendorf gelangt waren – dieser Weg musste ziemlich lang gewesen sein, denn es hatte immerhin eineinhalb Jahre gedauert –, das konnte auch Kuchler nicht beantworten. Es war Ulrich ohnehin einerlei, ebenso wie der Name »Nissenhütte«, der jetzt, nachdem er geklärt war, keine Bedeutung mehr für ihn hatte.
»Kann von mir aus heißen, wie’s will, die Schupfer«, sagte Ulrich in astreinem Niederbairisch zu den anderen (es war gerade mal zwei Jahre her, dass er einen Fuß nach Bayern gesetzt hatte), »Hauptsach, mir ham a bissl Platz in der Stubn und an Ofen drin.«
Fast fünfzig Quadratmeter stabil umrahmter, beheizbarer Raum, das bedeutete viermal mehr Platz, als das Winkelchen hinter dem Decken-Paravent im Kolpingsaal geboten hatte. In der Baracke gab es Raum für Tisch und Stühle, für Pritschen und Bettzeug, für Hamsterkartoffeln und für Geschirr – für all die Dinge und Gegenstände, an denen es den Schellers akut mangelte.
Ulrich und Anton arbeiteten deshalb unermüdlich daran, den Scheller’schen Hausrat zu vervollständigen. Auf dem hölzernen Bord über der Spülschüssel stapelten sich bereits etliche von Ulrichs handgearbeiteten unikalen Haushaltsgerätschaften. Sämtliche Fundstücke, die er zwei Winter lang im Hafen gesammelt und in diversen Verstecken gehortet hatte, wurden zu Gebrauchsgegenständen umfunktioniert. Jedes einzelne Objekt aus seinem Lagerbestand machte sich bezahlt.
Einen relativ gut erhaltenen Stahlhelm versah Ulrich in mühevollster Kleinarbeit mit Löchern und bereicherte so die Scheller’sche Küchenausstattung durch ein Sieb. Die lang gehegte Granatenkartusche wusste er als Henkeltopf umzugestalten; einen zweiten, sehr verbeulten Stahlhelm verarbeitete er zu einem Krug, die rüsselartige Ausbuchtung am Rand hatte ihn auf die Idee dazu gebracht. Das Rüsselchen ließ sich recht einfach als Ausgießer zurechtklopfen. Ihm gegenüber montierte Ulrich den elegant gewölbten Griff einer längst zerbrochenen Kommodenschublade an die Außenseite. Mutter Scheller benutzte das Gebilde als Teekanne.
Das dienlichste Gerät für den Scheller’schen Haushalt bastelte allerdings Anton: eine Petroleumlampe aus dem Kohlefilter einer Gasmaske.
Eines Tages behauptete Anton gar, er wisse jetzt ganz genau, wie man aus dem Benzinkanister, dem Zinntopf und dem drei Meter langen Kupferrohr aus Ulrichs Depot ein Destilliergerät bauen könne.
»Zuckerrüben- und Kartoffelschnaps setzt sich ab wie Butter und Schweinespeck«, sagte er, und Ulrich zeigte sich äußerst interessiert an dem Projekt. Leider kam Vater Scheller den Brüdern in die Quere. Er konfiszierte kurzerhand den Zinktopf und montierte ihn auf steinerne Füße, damit Mutter Scheller die Wäsche darin einweichen konnte. Bald danach griff sich Vater Scheller auch den Benzinkanister und tauschte ihn gegen ein Häufchen Kohlen. Das verwaiste Kupferrohr schrumpfte ohnehin täglich. Es wurde für Henkel und Stiele verbraucht.
Seit sechs Monaten wohnten die Schellers nun in ihrer Nissenhütte. Man schrieb Ende September 1947. Die Nächte begannen, wieder kalt zu werden.
An diesem Abend und in dieser Nacht aber würden die Schellers nicht frieren müssen. Der vierte Kistenturm ragte bereits eineinhalb Meter hoch, der Abfallhaufen breitete sich über drei Schrittlängen aus. Es gab genügend Brennholz für alle.
Als der letzte Turm fertiggebaut war, luden sich die Freunde beide Arme mit zerborstenen Brettchen voll, liefen nach Hause und kehrten schon wenige Minuten später zurück, um noch die verstreuten Splitter aufzusammeln. Jeder Span war begehrt in jener Zeit des Mangels, als nur der Schwarzmarkt etwas hergab. Auch viele der Einheimischen litten Not, hatten den Flüchtlingen jedoch einiges voraus: eine Wohnung oder gar ein Häuschen mit gemauerten Wänden und verglasten Fenstern samt Einrichtung und Herd, samt vielen Dingen, die sie schon vor dem Krieg besessen hatten und die ihnen das Leben leichter machten. An Brennstoff und Nahrungsmitteln fehlte es aber auch ihnen, und Luxusgüter wie Kaffee oder Schokolade lagen für die meisten so unerreichbar fern wie Beteigeuze.
Mitten im Späne-Aufklauben überkam Ulrich das Gefühl, dass draußen auf dem Mühlbachweg etwas Ungewöhnliches vor sich ging. Denn dort knirschten zehnmal mehr Kiesel unter eiligen Tritten als sonst um diese Zeit.
Was hat bloß so viel Leut aus ihrem Geniste gelockt?, überlegte Ulrich und hielt die Nase in den Wind. Dabei fiel ihm
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