Der kleine Fluechtling
die Hülle gewissenhaft um den Schiffsrumpf, dann setzte er den Dampfer ab und rieb sich Stirn und Augen, um die unguten Bilder loszuwerden, die ihm zeigten, wie alles hätte kommen können. Keisling hätte ihnen sicherlich verboten, je wieder einen Fuß auf Keisling-Grund zu setzen, woraufhin Schluss gewesen wäre mit klingenden Groschen fürs Kistenstapeln, mit Zuckertüten fürs Kesselwienern, mit Brausepulver fürs Hoffegen.
Gerhard hätte sich obendrein auf eine Tracht Prügel von seinem Vater gefasst machen müssen und auf eine Strafpredigt von seiner Mutter, weil die beiden gar nicht anders gekonnt hätten, als dieser Unbesonnenheit Rechnung zu tragen. Hing nicht das Wohl und Wehe der gesamten Familie vom reichen Onkel Keisling ab?
Ulrich nickte seinem Dampfer zu und dachte daran, wie die ganze Sache tatsächlich ausgangen war.
Die Krisis schien überstanden, nachdem sich der Braumeister von der Bretterwand weg zur Brauhaustür gewandt hatte und kurz darauf dahinter verschwunden war.
Walter wähnte offenbar jede Gefahr gebannt, denn er schnaubte befreit, laut und ausgiebig. Unglücklicherweise war ihm entgangen, dass Gerhards Onkel Konrad höchstpersönlich aus seinem Büro getreten war und, die Augen mit der flachen Hand beschirmend, über den Brauereihof blickte. Ulrich sah erneut sämtlich Felle davonschwimmen, als ihm plötzlich ein paar angekohlte Balken ins Auge fielen. Kurz entschlossen schulterte er einen davon und trat hinter der Bretterwand hervor – mitten in Keislings Blickfeld hinein. Gerhard begriff offenbar rasch, was Ulrich bezweckte. Schleunigst schleppte er den zweiten Balken vor des Onkels Füße und sagte: »Die gehörn doch längst hergsägt. Liegn da umeinand für nix und wieder nix. Mir machen uns gleich drüber her.«
»Seits gscheite Bubn, anständige Bubn«, lobte der Onkel. »Holts euch ein Kracherl beim Bräu. Gestern is unsere neue Produktion anglaufen.«
»Mecht ich zum Mühlbach rieberrennen, damit du endlich in See stechn kannst«, kündigte Ulrich seinem Dampfer an und verließ die Baracke, die seit Neuestem sein Heim war.
Während Ulrich den Dampfer auf der flachen Hand vor sich hertrug, fiel ihm ein, wie der gelungene Coup sein Ansehen bei der Hafenbande – aber ganz besonders bei deren Chef – mit einem Ruck weiter hatte hochschnellen lassen. Jenem Coup hatte er es wohl auch zu verdanken, dass seine neue Zupfgeige nicht zu Kleinholz zum Anheizen verarbeitet worden war. Mangels Ideen für einen sinnvolleren und praktischeren Gegenstand hatte er sie eines Nachmittags gebastelt, eine Zeit lang damit herumgespielt und sie dann mit zum Hafen genommen, wo er einstweilen bloß auf Walter traf. Der hatte Ulrichs Instrument zuerst nur töricht angeschaut und sich dann erklären lassen, wozu es diente. Daraufhin hatte er Ulrich einen Vogel gezeigt.
»Und für den Krampf hast du die schönen trockenen Ausschussbrettl von die Keisling-Kistl hergnommen? Die wo brennen wie Zunder? Gib her das Ding, ich mach Spreißel draus, die kann mei Mutter gut brauchen.«
Walter schien sich dermaßen im Recht zu fühlen, dass er, ohne lange zu überlegen, nach Ulrichs Zupfgeige griff. Denken und überlegen waren ohnehin nicht Walters Stärke. Dafür hatte er einen stabilen Knochenbau und angesichts der schlechten Zeiten reichlich Körpermasse vorzuweisen. Ulrich wusste, dass er gegen Walter keine Chance haben würde. Dennoch klammerte er sich mit aller Macht an sein Instrument.
Walter lachte. Das Gerangel gefiel ihm. Und eines war von vornherein klar, der Sieger konnte mit seiner Beute machen, was er wollte.
Ulrich lag rücklings auf der Erde, beide Arme um die Zupfgeige geschlungen, und Walter kniete halb auf ihm, als Gerhard und Sabe erschienen. Entgegen Ulrichs Erwartung verhielt sich Gerhard nicht wie ein neutraler Zuschauer, sondern pfiff Walter zurück, der es inzwischen jedoch geschafft hatte, die Beute an sich zu bringen. Wie ein gehorsam apportierender Hund überreichte er sie Gerhard, der das Musikinstrument sofort als solches erkannte und ausprobierte.
Offensichtlich war ihm auf der Stelle klar, was Walter damit vorgehabt hatte, denn er sagte: »Wär schad drum, wenn man’s platt walzen tät. Und jetzt lasst’s uns schaun, ob der ganze Schrott hier noch was Taugliches hergibt.«
Es wurde wieder einer jener fruchtlosen Nachmittage im längst ausgeplünderten Hafen. Die Buben (mittlerweile war auch Anton hinzugekommen) trieben sich zwischen einigen Alteisentrümmern herum,
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