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Der kleine Fluechtling

Der kleine Fluechtling

Titel: Der kleine Fluechtling Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jutta Mehler
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dran, in seinem Klassenzimmer drei Jahrgänge von Dissidenten zu züchten.
    »Warum darf ein Soldat den andern töten?«
    »Wieso hat der Staat das Recht, Leute einzusperren?«
    »Wer hat den Judenhass erfunden?«
    »Hitler! Hitler! Hitler!«
    »Falsch! Falsch! Falsch!«
    Gesichter, in denen sich riesige Fragezeichen spiegelten, starrten ihm entgegen.
    »Der Papst, der erste christliche Papst.«
    Frage um Frage schoss Kuchler ins Klassenzimmer.
    »Was ist Glaube?« Auf diese Frage wartete er mit einer Antwort auf, die ihm, wäre sie dem Schulrat zu Ohren gekommen, womöglich Schlimmeres als lebenslange Suspendierung eingebracht hätte.
    »Glauben heißt, als wahr anzusehen, was jeder Vernunft widerspricht!«
    Nach einer Stunde Kuchler’scher Philosophie erschien Ulrich das Lösen von Textaufgaben so entspannend wie Siebzehnundvier am Lagerfeuer. Er fand es derart entspannend, dass er sich dabei schnell zu langweilen begann. Deshalb erfand er die Pinkelnummer.
    Anfangs meinte Ulrich, Kuchler würde voll darauf hereinfallen. Erst nach Wochen ging ihm auf, dass der Lehrer gar nichts dagegen hatte, wenn er sich vorzeitig aus dem Staub machte.
    Und so bürgerte es sich ein, dass Ulrich, sobald er alle Rechenaufgaben der ersten, zweiten und dritten Jahrgangsstufe gelöst hatte, seinen Schulranzen halbwegs unauffällig aus dem Fenster warf, sodann den Finger hob und sich zum Pinkeln abmeldete. Kuchler pflegte nur zustimmend zu nicken, und irgendwann war Ulrich klar, dass der Lehrer sowieso nicht mit seiner Rückkehr rechnete.
    Beim ersten Mal ging Ulrich zum Pinkeln, wie angekündigt, dann lief er zum Hauptportal, rannte aus dem Kasernenhof hinaus und vergaß den Schulranzen in den Büschen unterm Fenster des Klassenzimmers. Danach stellte sich eine gewisse Routine ein.
    Hin und wieder fragte sich Ulrich, ob Kuchler wohl ahnte, weshalb er es so eilig damit hatte, weit vor Schulschluss aus der Neuhof-Kaserne zu verschwinden. Ob Kuchler womöglich erraten hatte, dass Ulrich unter den Fenstern der katholischen Knabenschule dringend weitere Textaufgaben lösen musste.
    In der hintersten Bank eines Klassenzimmers jener Knabenschule hockten nämlich Sabe und Bulli und wussten sich bei Rechenaufgaben keinen anderen Rat, als ihre Arbeitsblätter zusammenzuknüllen und hinaus in den Rinnstein zu werfen.
    Wenn die beiden Glück hatten, kam Ulrich frühzeitig genug angepest, um alles aufzusammeln, die Aufgaben zu lösen und zu Kügelchen geformt durchs offene Fenster ins Klassenzimmer zurückzuschleudern.
    Ulrich sah seinem Schiffchen nach, als es auf die Mostkellerei Pfister zutrieb, in diesen und jenen Wirbel geriet und wieder herauskatapultiert wurde. Er schaute zu, wie sein Dampfer an den Baracken beim Mühlbachbogen vorbeidümpelte, und seufzte, als das Schiff bei der Brauerei Keisling aus seinem Blickfeld verschwand.
    Es war auf dem Weg nach Anderswo.
    »He, Scheller-Gripskopf, was hat denn dich gstreift, dass du so deppert in den Mühlbach einiglotzt? Tu dich um, Gripskopf, der alte Keisling gibt Kracherl aus – fürs Kistelnaufrichten.«
    Bulli Panzer rief es im Lauf, hinter ihm säbelte Sabe.
    Automatisch hängte sich Ulrich an die beiden dran.
    »Kunstbrause, hurra, äh, Kracherl, pfundig!«, schrie er, schon reichlich außer Atem vom Laufen. Er rannte jetzt dicht hinter Bulli und sprach sozusagen mit dessen Nackenfalte. Denn im Gegensatz zu Ulrich saß bei Bulli der Kopf unmittelbar auf den kräftigen Schultern.
    »Ohne Hals, mit Segelohren, so ist der Bulli Grans geboren«, hatte Chef Gerhard neulich gedichtet, und Ulrich hatte sich nicht lumpen lassen: »Kopf und Genicke, alles een Sticke.«
    Knapp hinter Bulli fegte Ulrich in den Brauereihof; fast synchron schlugen sie einen scharfen Haken nach rechts und kamen vor einem neu erbauten Schuppen zum Stehen. Darin lagerte sie, Keislings knallrosa Brauselimonade, die schon beim ersten Mundvoll kariöse Zähne mit reichlich Nachschub an Nährboden versorgte.
    Natriumbicarbonat hieß die Zauberformel, die »KeiLimo« – Keislings neuestes Produkt – ins Leben gerufen hatte. In einem Kellerraum unter dem Brauhaus wurde die Limonade in birnenförmige Fläschchen abgefüllt, die man dann im Sechserpack auf Fichtenholzkistchen verteilte.
    Keisling achtete streng darauf, dass jegliches Leergut den Weg zurück in seine Brauerei fand, wo die Fläschchen gereinigt und zur Wiederverwendung bereitgehalten wurden. Dafür hatte er extra zwei Frauen angestellt. Für das Inspizieren und

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