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Der kleine Fluechtling

Der kleine Fluechtling

Titel: Der kleine Fluechtling Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jutta Mehler
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auf, dass auch Gerhard horchte und witterte. Noch bevor ihm der Blutgeruch in die Nase stieg, ging Ulrich ein Licht auf. Im nächsten Moment rief er den anderen zu:
    »Macht hinne, ihr Strolche, äh, schickts euch, Spezeln, der Rossmetzger, ja riechts ihr’s nit, der Rossmetzger, der schlacht een Gaul! Een Kriegsgaul schlacht der, een lahmen.«
    Die Holzsplitter flogen in eine Ecke, und ein halbes Dutzend Füße trommelte übers Pflaster auf den Mühlbachweg hinaus. Auf einmal war es still im Brauereihof.
    Wie die Soldaten, so kamen nach und nach auch die Pferde wieder nach Hause, geschunden, siech und lahm – kriegsversehrt. Sie torkelten aus den Güterwaggons und wurden sogleich vor Pflüge und Wagen gespannt. Nur wenige hielten das aus.
    Dürr und faltig, wie sie waren, taugten die ausgemergelten Klepper eigentlich nicht einmal mehr zum Schlachten. Dennoch war der Rossmetzger ihre letzte Station, und die paar Fasern, die sie noch auf den Knochen hatten, waren heiß begehrt.
    Sobald Pferdemetzger Fenzl sein Schlachtermesser wetzte, fand sich vor seiner Tür eine Menschenmenge ein und formierte sich schweigend zu einer Warteschlange. Bayern, Schlesier, Sudetendeutsche und dieser oder jener Landstreicher harrten einträchtig nebeneinander. Die karge Nachkriegszeit hatte sie das geduldige Schlangestehen gelehrt. Gleichgültig, ob die Sonne herunterbrannte, der böhmische Schneewind wehte oder ein Gewitterregen prasselte; gleichgültig, wie viele Meter weit sich die Warteschlange dahinwand, es gab kein Murren und kein Mucksen.
    Die Buben schlossen sich wortlos den Menschen vor der Pferdemetzgerei an.
    Drei Stunden später hielt Ulrich ehrfürchtig ein Klümpchen knotiges Muskelfleisch in der Hand. Zwei Sehnen, dick wie Gänsehälse, teilten das poröse Gewebe längs und quer. Auf Bullis ausgestrecktem Handteller lag ein flacher Batzen graubrauner Masse, der mit weißem Nervengeflecht durchzogen war. Sabe umklammerte einen bläulich schimmernden, harten Brocken.
    Die Freunde nickten sich feierlich zu. Dann machten sie sich auf, die kostbare Gabe nach Hause zu befördern.
    Beim Heimgehen tauchte in Ulrichs Kopf plötzlich eine Erinnerung an Schlesien auf. Überraschend fiel ihm ein, dass es an der Straße nach Schweidnitz eine Fabrikanlage gegeben hatte, in der kranke und altersschwache Pferde geschlachtet worden waren.
    Aber gegessen ham wir nie was von die Gäul, dachte Ulrich. Wo die toten Pferde damals wohl hingekommen sind? Nach einer Weile erschien ein Plakat in seinem Kopf. Es zeigte einen Mann mit glänzend schwarzen Schuhen, und auf einem Schild darunter stand: »Nigrin – der vornehmste Glanz für ihre Schuhe«.
    Die haben Schuhcreme gemacht aus den Pferden, dämmerte es Ulrich.
    Und jetzt erinnerte er sich auch daran, dass er Großvater Scheller einmal gefragt hatte, woher die Pferde kämen, die ständig zur Fabrik gekarrt wurden.
    »Das sind Grubenpferde«, hatte ihm sein Großvater erklärt. »Die werden als ganz junge Gäule in die Kohleschächte gebracht. Dort müssen sie Tag für Tag beladene Loren über Schienen zum Förderaufzug ziehen und leere wieder zurück zum Flöz. Sie kommen in ihrem Dasein kein einziges Mal aus dem Bergwerk heraus ans Tageslicht, deshalb werden sie mit der Zeit blind. Erst wenn sie alt sind und marode und sowieso kaum noch stehen können, hievt man sie aus dem Schacht. Dann ist es Zeit zu sterben.«
    Ulrich beäugte das Stückchen Pferd in seiner Hand und fragte sich, was wohl die Schweiditzer inzwischen mit den abgehalfterten Grubenpferden machten.
    An diesem Abend hätte man – mit viel Generosität – die Behausung der Familie Scheller als geradezu gemütlich bezeichnen können.
    Gewiss, man hätte davon absehen müssen, zu schnüffeln wie ein Jagdhund, um nicht den latent vorhandenen Pissegeruch in die Nase zu bekommen; zudem wäre man gut beraten gewesen, die Augen ein wenig zuzukneifen, damit sämtliche Konturen verschwammen. Doch wem das glückte, der konnte den Duft nach Fleischsuppe und frisch gebackenem Brotfladen riechen, der konnte sehen, dass im Ofen ein fröhliches Feuer prasselte und dass auf dem Tisch, den eine Decke zierte, eine Kerze flackerte.
    Ulrich saß in der Ecke und spielte seine Zupfgeige. Anton hatte sich mit seinem Xylophon, das er neulich erst gebastelt hatte, zu ihm gesellt. Was die beiden zum Besten gaben, konnte man mit einiger Phantasie für den Lale-Anderson-Song halten. Und täuschte es, oder summte Mutter Scheller leise mit?

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