Der kleine Fluechtling
IV
1
Der neue deutsche Staat bekam ein Grundgesetz und Konrad Adenauer als Bundeskanzler.
Er überstand die Berlinblockade.
Ein vierundzwanzigjähriges Fotomodell wurde zur Miss Germany gekürt.
Auf der Münchner Theresienwiese sammelten sich wieder die Schausteller und läuteten das Oktoberfest ein.
Es wurde gebaut und produziert.
Gott hielt sich zurück mit dem Großen Amen. Zwar musste die Nation den Tod Karl Valentins hinnehmen, Richard Strauß trat ab und auch Ferdinand Porsche, aber es war halt einfach Zeit für sie, bleiben kann keiner.
Die Ansässigen unterm Himmelberg konnten im Lauf der Jahre alle wichtigen Nachrichten der »Passauer Neuen Presse« entnehmen.
Im Frühjahr 1951 füllten sich die Titelseiten mit Berichten und Kommentaren über den Krieg in Korea. Die Neuhausener lasen die Meldungen mit mäßigem Interesse. Seoul lag schließlich unendlich weit weg von Neuhausen.
»Wennst du rumhupfst wie ein Karnickel, kannst dir die Rüschen am Prangertag als Ketten um den Hals hängen, weil anheften kann ich die net«, schimpfte Liesl.
»Halt still«, mahnte auch Anna Langmoser.
Schleunigst reckte Gerda ihr Näschen himmelwärts, bog die Schultern zurück, schob das Brustbein nach vorn und rührte sich um keine Fadenbreite mehr.
Anna nickte ihrer Tochter befriedigt zu. Gerda würde mucksmäuschenstill halten, damit Liesl den Rüschenbesatz um den Halsausschnitt ihres neuen Kleides drapieren konnte, ganz genau so, wie es in dem Modeheft abgebildet war, das Helga mit der Post aus dem österreichischen Münzhausen geschickt hatte – zusammen mit zwei Metern glänzend rotem Stoff.
»Satinstoff aus einem Linzer Modehaus«, hatte Anna frohlockt und ihrer Schwester in einem Brief für das umwerfende Geschenk zu Gerdas sechstem Geburtstag überschwänglich gedankt. Anna hatte Helga darin auch gebeten, zu Besuch auf den Himmelberghof zu kommen (»Ein paar Tage wenigstens, wir haben uns doch schon so lange nicht mehr gesehen«), obwohl sie genau wusste, dass es Helga nicht möglich sein würde. Ihre Schwiegermutter hatte sich bei einem Sturz den soundsovielten Rückenwirbel gebrochen und war zum Pflegefall geworden. Seitdem stand es mit Helgas Finanzen erst recht nicht zum Besten. Das Einzige, an dem es ihr nie fehlte, waren Stoffe. Übrig gebliebene oder verschmähte Stoffe ihrer Kundinnen.
»Da hat’s der Renate die Glupscher rausbatzt und der Liesl erst recht«, hatte Anna gemurmelt, während sie das Briefkuvert adressierte. »Neidig sinds, die zwei, neidig wie Rabenvögl.«
Dass Renate wieder einmal leer ausging, hatte Anna nicht daran gehindert, Liesl mit dem Zuschneiden und Nähen des Festtagskleides zu beauftragen.
Doch Liesl hatte Zeit geschunden, bis ihr Anna so richtig Bescheid gestoßen hatte: Es sich hier auf dem Himmelberghof gut gehen lassen, das Balg anderen zum Beaufsichtigen andrehen und dann das neue Kleid für die Gerti zum Fronleichnamsumzug nicht rechtzeitig fertig machen wollen – so weit kommt’s noch.
»Jetz ziehst es aus, aber vorsichtig«, sagte Liesl mürrisch zu ihrer Nichte, »dass du mir die Heftnäht net wieder auftrennst.« Sie nahm das Kleid entgegen und setzte sich an die Nähmaschine. »Wenn ich die Rüschen angsteppt hab«, rief sie über die Schulter, »dann steck ich gleich noch die Rockläng ab.«
Na also, dachte Anna, geht doch.
Laut fragte sie: »Magst a Tass Kaffee, Liesl?«
Die traktierte den Fußantrieb ihrer Singer.
Anna füllte den Wasserkessel. Sie würde für Liesl einen echten Bohnenkaffee kochen. Schließlich war Sonntag. Liesls freier Tag, den sie für Gertis Kleid opfern musste. Morgen in aller Früh würde sie wieder nach Deggendorf radeln müssen, wo sie die Woche über bei Spielwaren-Lindner den Haushalt machte.
Anna gab reichlich Kaffeepulver in den Filter. Liesl sollte ihr Lieblingsgetränk haben, stark und süß und genug davon, um bei der Stange zu bleiben. Nicht dass sie am Ende noch anfing zu pfuschen.
Bei dem Gedanken, das Kleid für ihre Tochter könne misslingen, erschrak Anna richtiggehend. Sie warf einen argwöhnischen Blick auf die Nähmaschine, konnte jedoch nur gebauschten Stoff erkennen.
Die Gerti hat es ja schon angehabt, beruhigte sie sich. Wenn die Liesl im Sinn gehabt hätte, den Stoff zu verderben, dann hätte sie das ja schon beim Zuschneiden tun müssen.
»Lass ihn nicht kalt werden«, rief sie, und die Nähmaschine kam zum Stillstand. Liesl eilte zum Küchentisch hinüber und setzte sich vor ihre volle
Weitere Kostenlose Bücher