Der kleine Fluechtling
sich vor dem Bierholen zu drücken, weil das aber nur selten möglich war, hatten sie sich für diese Aufgabe zusammengetan.
Jeder, der ein Seidel oder eine Kanne voll Bier heimtragen wollte, musste auf einem glitschigen Trampelpfad an der Nordseite des Wirtshauses entlang zu dessen rückwärtigem Eingang vordringen, der stets verriegelt war. Um sich bemerkbar zu machen, war es nötig, hart und beharrlich an das fliegenverschissene Flezfenster zu klopfen. Über kurz oder lang öffnete sich daraufhin die schmutzige Luke, und die schräge Visage des Erwin Streusel erschien.
Dem Erwin wuchsen schwarze und braune Borsten kreuz und quer aus Nase und Ohren. Seine Haut ähnelte einem Reptilienpanzer, seine Augen lagen unter Hautfalten versteckt, aus dem rechten Mundwinkel rann ein beharrlicher Speichelfaden zum Kinn. Erwin pflegte nach dem Öffnen der Luke kurz in Windrichtung zu wittern und sodann seinen Buckel unter dem Fenstersturz durchzuschieben.
Erwin, so sagten die Neuhausener, habe die Euthanasiewellen des Dritten Reiches deshalb unbeschadet überstanden, weil er sich jahrelang im Hinterkämmerchen des Streusel-Wirtshauses verborgen gehalten habe.
Sobald sich Erwins Arme aus dem Fenster streckten, begann für die Himmelberg-Mädchen das Gruseln.
Erwin bleckte seinen einzigen Zahn (prämolar rechts oben) und versuchte, die Hände der Mädchen am Henkel der Kanne zu ergrapschen. Seine zersplitterten Fingernägel schrappten dabei schauerlich über das raue Steingut. Die Mädchenhände machten sich schleunigst davon, und in Erwins Kehlkopf gurgelte es gekränkt.
Es war wohl immer Renate, die couragiert zufasste, wenn der Krug – inzwischen gefüllt – wieder auf dem Fenstersims erschien. Denn jetzt gab es kein Zurück. Man musste erdulden, dass sich zwei schleimig-feuchte Patscher auf die Handrücken legten, musste stillhalten, bis es in Erwins Kehlkopf einmal befriedigt geblubbert hatte, wonach sich sein Griff löste und das Fensterchen wieder zuklappte.
Die heikle Sonntagsmission war aber damit noch nicht ganz zu Ende. Es erwies sich jedes Mal von Neuem als Kunststück, die randvolle Kanne den Hügel hinaufzubalancieren. Pünktlich um sechs Uhr abends musste sie auf dem Tisch stehen. Denn um diese Zeit pflegten sich Willi und sein Vater die Sonntagsmaß zu teilen.
Anna ließ Liesl eine Zeit lang an der Frage nagen, weshalb sie Gerda wohl allein auf diesen verabscheuten Weg geschickt hatte. Sie prüfte mit der flachen Hand die Platte des gusseisernen Bügeleisens, befand sie für noch nicht zu kalt, plättete weiter und sagte schließlich beiläufig: »Der Vater muss noch aufn Schlossberg zu die Bienenstöck. Ein Schwarm rott sich zamm. Wird seine Zeit dauern, bis er den eingfangen hat.«
Sie ließ auch dieser Botschaft ein bisschen Zeit, sich zu setzen, tupfte mit der Bügeleisenspitze über die Rüschenzeilen und verkündete dann: »Der Willi hat mir heut in der Früh gheißen, dass er die zwei Gickerl abbrackt, die wo mir am Prangertag braten wolln, wenn mein Bruder Michel (sie betonte das »mein«) und meine (wieder deutliche Betonung) Schwägerin Tina aus München zu Besuch kommen.«
Das Bügeleisen schwebte einen Moment lang in der Luft, während Anna gefühlsduselig fortfuhr: »Mei, ham mir den Michel schon lang nimmer gsehn, seit Weihnachten nimmer. Das is mir aber auch einer, der hat sich daheim rar gemacht, seit ich denken kann. Dabei is er mir der allerliebste von meine drei Brüder, immer is der lustig, und knausrig is der überhaupt net. Nobel war des, sehr nobel, wie der Michel und seine Tina der Mutter auf Weihnachten den schönen Mantel gschenkt ham, den mit dem echten Pelzkragen.«
Sie prüfte den Sitz der Volants und fügte hinzu: »Die müssen mir später noch abbrühen und rupfen – die Gickeln, mein ich.«
Daraufhin verschwand sie mit Gerdas neuem Sonntagsstaat in ihrer Schlafkammer, erschien aber bereits eine halbe Minute später wieder auf der Schwelle. »Also, wie gsagt, der Vater is dann bei die Bienen. Aufn Willi warten die Gickerl, und die Gerda is zum Bierholn. Drum muss die Renate mit hinlangen, wenn der Backel ausgschirrt wird.«
Sie beobachtete, wie Liesl erstarrte, hütete sich aber, abzuwarten, bis sie sich so weit erholt hatte, um zurückschlagen zu können.
Anna drehte sich hastig um und strebte über die Flez der Haustür zu. Eine Flut von Schimpfworten drang an ihr Ohr: »Mistmatz, Sautrumm, Pritschen, verreckte …«
Wussten nicht alle in Neuhausen – angefangen
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