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Der kleine Fluechtling

Der kleine Fluechtling

Titel: Der kleine Fluechtling Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jutta Mehler
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Tasse.
    Anna trug Gerti auf, den Zucker aus der Speisekammer zu holen.
    Während Liesl drei Löffel voll in ihren Kaffee rührte, sagte Anna: »Leicht tut sich die Renate nicht grad mit der Hausaufgab. Hat keine Geduld und kein Sitzfleisch. Nicht eine Minute kann ich sie aus den Augen lassen.«
    Liesl gab keine Antwort, aber das machte Anna nichts aus. Die Botschaft war abgesandt und angekommen, und sie lautete im Klartext: Gib dir gefälligst Mühe mit dem Kleid, dann sorge ich dafür, dass dein Balg mit anständig gemachter Hausaufgabe in die Schule geht.
    Renate war vor zwei Jahren eingeschult worden und befand sich wie zuvor unter Annas Fuchtel, wenn Liesl bei Lindner im Haushalt arbeitete. Zwar stimmte, dass sie sich nur ungern mit Schularbeiten abgab, aber schon jetzt war zu erkennen, dass sie ihrer Mutter in puncto handwerklicher Geschicklichkeit in nichts nachstand. Renate konnte bereits allerliebste Mäusezähnchen häkeln, und wenn sie einen Festtagskuchen verziert hatte, neigte man dazu, dem Ergebnis zu applaudieren. Renates beachtenswertes Geschick verstimmte Anna vor allem deshalb, weil Klein-Gertis Stummelfingerchen oft recht ungelenk waren. Aber was macht es schon, beschwichtigte sie sich wieder einmal. Ihre Tochter würde es niemals nötig haben, Deckchen und Topflappen zu häkeln oder Torten zu verzieren.
    »Wo is denn die Renate?«, fragte Gerda.
    Liesl gab ein leises Schniefen von sich.
    Anna zuckte die Schultern, obwohl sie ahnte, wo Renate sich befand.
    Das Balg hockt in der Kammer und schmollt, dachte sie.
    »Hättn wir’s nicht teilen können, das Stofferl?«, sagte Liesl plötzlich. »Für jedes Kind ein Röckerl wär schon drausgangen, und dazu hättn wir den Mädeln halt weiße Bluserl anzogen.«
    Annas Augenbrauen schossen nach oben. »Hat die Gerti den Stoff von meiner Schwester zum Geburtstag kriegt, oder ham mir den von der Caritas?«
    Würde es denn nie in Liesls Schädel gehen, dass sie nicht dazugehörte? Dass ihr vom Familienbesitz kein Bröselchen zustand, kein Hälmchen, kein Stängelchen? Jetzt nicht und später schon gar nicht, wenn Willi den Hof übernahm. Max und Anna würden dann wohl eine kleine Abfindung bekommen (nicht viel, wirklichen Gewinn warf der Hof ja nicht ab), aber Liesl würde ganz gewiss außen vor bleiben.
    »Die Renate muss am Prangertag das Baumwollkleid aus dem Schürzenstoff anziehn«, beklagte sich Liesl.
    Na und, dachte Anna. Das taugt für das Balg.
    Liesl trank ihren Kaffee aus und stellte die Tasse ab. Über ihr Gesicht huschte ein triumphierendes Lächeln. »Na, wenigstens hats schöne Schuh fürn Prangertag, die Renate.«
    »Was für Schuh?«
    »Weiße Stiefeletten von der Gloria.«
    Anna kochte. Zuweilen kam es vor, dass die Gräflichen vom Schloss Offenberg etwas von ihrer Garderobe verschenkten. Gloria, die Grafentochter, war zwar ein wenig älter als Renate, aber klein und zierlich. Glorias Stiefeletten (bestimmt nicht öfter als zweimal getragen) mussten Liesls Balg gut passen.
    »Hast du die Renate gestern nicht selber zum Milchtragen ins Schloss raufgschickt?«, sagte Liesl. »Da hat ihr die Nandl die Schuh in die Hand drückt.«
    Und das Balg hat sie ganz verstohlen in der Schlafkammer verschwinden lassen, dachte Anna aufgebracht. Weiße Stiefeletten! Im nächsten Jahr hätten sie Gerti gepasst.
    »Die Nandl hat gsagt: ›Kind, die sind für dich‹«, fügte Liesl an.
    Anna musste sich geschlagen geben. Sie hatte sich selbst zuzuschreiben, wie es gekommen war. Gerda war inzwischen groß genug, sich mit Renate beim Milchtragen abzuwechseln, aber Anna hatte wieder Liesls Tochter mit der Kanne zum Schloss beordert, und Nandl, das Faktotum von Schloss Offenberg, hatte die Schuhe eben dem Mädchen gegeben, das gerade da war.
    Anna biss die Zähne aufeinander. Das Balg würde sich am Fronleichnamstag (er fiel im Jahr 1951 auf den 24. Mai) auf gräflichen Sohlen in die Prozession einreihen. Die Neuhausener würden statt der Blumenteppiche vor den Feldaltären die gräflichen Schuhe an den Füßen des Bankerts bewundern.
    Liesl saß jetzt wieder an der Nähmaschine und steppte die restlichen Rüschen auf Gerdas Kleid.
    Anna sah zu, wie sie noch ein paar Ränder versäuberte und anschließend mit dem rechten Fußballen das Zurückschwingen der Tretkurbel bremste. Liesl biss den dunkelroten Faden ab und setzte die hölzerne Haube über die Singer.
    »Gertiii! Wo is denn das Dirndl? Geh her jetz, Saum abstecken, oder möchst, dass der Rock hinten und

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