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Der kleine Fluechtling

Der kleine Fluechtling

Titel: Der kleine Fluechtling Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jutta Mehler
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eine Kredenz schreinern, und die Mutter sicherte ihr einen Satz Schmalztöpfe und etliche Kupferkessel zu.
    »Ein bisserl musst noch warten«, versuchte Anna ihre Tochter hinzuhalten. »Du möchst doch nicht noch einen Fleck draufkriegen auf den schönen Stoff.« Sie setzte sich zusammen mit Gerda auf die Bettkante und strich ihr über den Rücken.
    Wie Gerti es wohl verkraften wird, vom sonnigen Bauernhof in eine rußige Wohnung mitten in der Stadt versetzt zu werden?, fragte sie sich und seufzte.
    Aber es hatte keinen Sinn zu hadern. Denn auf dem Himmelberghof hätten die Langmosers sowieso nicht mehr lange bleiben können.
    Es hatte sich nämlich gefügt, dass Willi auf Freiersfüßen wandelte. Männer waren knapp in diesen Nachkriegszeiten, deshalb hatte sogar einer mit Dachschaden gute Chancen, eine anständige Frau zu bekommen. Vor allem wenn außer Frage stand, dass er den elterlichen Hof samt etlichen Tagwerk Grund, samt einem halben Dutzend Rindviecher und sieben Bienenvölkern erben würde.
    Am Himmelberghof würde sich also demnächst eine junge Hausherrin breitmachen, und Anna hoffte inständig, dass dann auch Liesls Tage hier gezählt seinen würden.
    »Meiner Seel«, sagte Liesl, als Gerda zwei Stunden später in ihrem neuen Kleid die Küche betrat. »Die Gerti schaut ja wirklich ganz genauso aus wie das Madl in dem Modeheft.« Sie schien selbst überrascht zu sein, wie gut ihr das Kleidchen gelungen war und wie hübsch sich Gerda darin machte.
    »Bist fertig mit die Gickerl?«, drängte Anna. »Is die Renate anzogen? Gehts weiter, kommts jetz, es läut schon zamm.«
    Anna hetzte alle aus der Stube, kehrte aber im nächsten Augenblick noch einmal zurück und rannte weiter in die Schlafkammer, weil sie ihre Handtasche auf dem Ehebett liegen gelassen hatte.
    Gerda hatte sich inzwischen auf den obersten der drei Granitsteine gestellt, die als Treppe von der Haustür zur Gred hinunterführten. Rechte Schulter, rechte Hüfte und rechtes Bein leicht vorgeschoben, die linke Körperpartie elegant nach hinten geneigt, posierte sie zwischen Tür und Angel. Gemäß der Vorlage aus dem Modeheft winkelte sie nun den linken Ellenbogen an und schob die geöffnete linke Hand zum rechten Schlüsselbein hinauf, bis sie unter dem Rüschenvolant ruhte. Der luftige Stoff fiel locker darüber und quoll unterhalb der gespreizten Finger wieder heraus. Gerda bekam die Pose laufstegreif hin. Sie feilte gerade an dem dazu passenden Lächeln, als sie ein Stoß von hinten traf und über die Granitsteintreppe hinunterpurzeln ließ.
    Mit den Spitzen ihres rechten Schuhs blieb Gerda in einer Spalte des untersten Trittsteines hängen. Ihr Kinn knallte auf ein tückisches Kieselsteinchen und rutschte auf ihm vorwärts. Der rüschenbesetzte Oberkörper schrappte hinterher, bis sich Gerdas Knie ins Erdreich gebohrt hatten. Dann rührte sich nichts mehr. Gar nichts.
    Der erste Laut kam von Anna, die aus der Flez trat und Gerda liegen sah. Anna schrie, und sie hatte nicht vor, damit aufzuhören, bis die gesamte Familie herbeigeeilt war.
    Als Erstes zeigte sich ihre Mutter, dann Schwägerin Tina, die mit ihrem Mann Michel aus München angereist war, dann aber war Schluss. Die Männer befanden sich bereits unten im Dorf, wo sie sich für die Prozession mit ein, zwei Klaren stärken wollten.
    Es war ihre Tante Tina, die Gerda vorsichtig vom Boden pflückte, ihr auf die Wange klopfte und sagte: »Da hast dir das Kinn aber bös aufgschlagen. Tut dir sonst noch was weh, Gertilein?«
    Als Antwort kam Annas Kreischen. Sie riss Tina das Kind aus den Armen und begann es abzutasten. Zugegeben, Gerda war übel zerzaust, das schöne Kleidchen ruiniert, zerrissen und verdreckt. An den Rüschen baumelten Erdklumpen wie Troddeln; in Gerdas Haaren nisteten Gräser und Samen, aber bis auf das kleine Loch in ihrem Kinn war ihre Haut unversehrt, ihre Knochen schienen heil. Anna ließ sie zuerst das linke Bein bewegen, dann das rechte, ließ sie den Kopf drehen und mit den Schultern wackeln.
    »Schau, Gertilein, bis auf die Blessur da am Kinn is dir gar nix passiert«, zog Tina nach einer Weile Bilanz. »Aber jetz musst was sagen zu uns, du hast dich doch nicht so schlimm erschreckt, dass du nix mehr sagen kannst – oder?«
    Offenbar schon. Offenbar hatte der Schock Gertilein die Sprache verschlagen.
    »Was tuts denn ihr da in der Nervenklinik, wenn einer nix mehr redt?«, wandte sich Tina hilfesuchend an ihre Schwiegermutter, die ihre Arbeitstage zwischen

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