Der kleine Fluechtling
und her und rundherum drehte.
Anna musste zugeben, dass dieser Spiegel hielt, was Gerda sich davon versprochen hatte. Seine Seitenflügel ließen sich in jedem beliebigen Winkel zum Mittelteil fixieren, sodass man alle Körperpartien genauestens begutachten konnte – und zwar dreifach. Leider bescheinigte er aber auch dreifach und drastisch, was Gerda wohl nicht wahrhaben wollte: Eine Karriere als Fotomodell würde ihr versagt bleiben.
Anna dagegen wusste um die Unerbittlichkeit des Schicksals. Sie ahnte, ein Wachstumswunder, das Gerdas Beine strecken, ihre Hüften schmälern, ihre Schultern straffen und ihre Zähne gerade rücken würde, war nicht zu erwarten. Deshalb hatte sie sich schon vor einiger Zeit darangemacht, sämtliche Visionen von Gerda auf dem Laufsteg zu verscheuchen, und war dabei, sich wieder der Option zuzuwenden, die sie schon favorisiert hatte, als ihre Tochter noch ein Wickelkind gewesen war.
Schon damals hatte Anna in ihren Träumen Gerda mit einem Prinzen verheiratet gesehen. Jene Träume hatten jedoch nie etwas mit Märchen und Sagen zu tun gehabt. Dafür war Anna viel zu sehr Realistin. Der Wunschprinz brauchte nicht einmal blaublütig zu sein, beileibe nicht. Was nützte ein »von«, wie es die Bray-Steinburgs vom Offenberger Schloss im Namen hatten, wenn sie es sich nicht leisten konnten, ihre Besitzungen zu erhalten, wenn der Putz von den Türmen bröselte und die Nebengebäude einstürzten? Die Bray-Steinburgs, das wusste Anna von Max, blieben sogar ihre Steuern schuldig. Nein danke.
Was sich Anna für ihre Tochter vorstellte, war ein gut aussehender Mann mit Geld und Ansehen beziehungsweise (weil Gerda ja gerade mal zwölf Jahre alt war) mit der Aussicht auf Geld und Ansehen. Und Anna Langmoser war bereits fündig geworden.
Der Auserkorene hieß Gerhard Schwarz. Er kam regelmäßig in den Gemischtwarenladen seiner Tante Burgel, um zusammenzurechnen, was von der Brauerei Keisling angeliefert worden war, und den fälligen Betrag einzukassieren.
Der ganze Landkreis, wenn nicht halb Niederbayern wusste inzwischen, dass Gerhard eines Tages seinen Onkel Keisling beerben würde. Schon jetzt habe er in der Brauerei eine Menge zu sagen, hatte Anna läuten hören. Sie selbst war sich dessen sicher, denn wo Gerhard früher Sirupkanister und später KeiLimo-Kästen geschleppt hatte, trat er nun als Geschäftsmann auf.
Auf Gerdas Prinzen wartet ein Braureich, sagte sich Anna lächelnd und fand, ein Braureich sei gar nicht zu verachten.
Umgehend begann sie, Gerda um jeden Würfel Hefe, um jedes Stück Seife und um jede Haarklammer eigens zu Burgels Laden zu schicken. Obwohl ihre Tochter noch weit vom heiratsfähigen Alter entfernt war, konnte es ja wohl nicht schaden, den Keisling-Erben schon mal auf sie aufmerksam zu machen.
Geschwindes Handeln hielt Anna zudem deshalb für dringend erforderlich, weil es offensichtlich eine Rivalin gab. Renates erstaunliches Geschick für feine Handarbeiten hatte ihr eine kleine Einkommensquelle beschert. Auf Bestellung stickte sie Monogramme in Taschentücher oder Bettlaken, versah Tischdecken und Servietten mit elegantem Hohlsaum. Die Aufträge liefen über Burgels Geschäft, weil man dort auch die Bett- und Tischwäsche beziehen konnte. Zähneknirschend musste Anna Langmoser zuhören, wie Renates Arbeiten gelobt wurden, zähneknirschend musste sie zusehen, wie sich das Balg ein nettes Taschengeld verdiente, und zähneknirschend musste sie feststellen, dass Renate um Gerhard Schwarz herumscharwenzelte, wenn er zum Abrechnen kam.
Gerda lief also zu Burgels Laden, sooft ihre Mutter es von ihr verlangte. Sie schien es gern zu tun, und sie hatte es auch gar nicht weit, weil die Langmosers vor einiger Zeit wieder nach Neuhausen gezogen waren.
Zu Neujahr 1957 war der Kohlenhändler Limmer verstorben. Einen Tag später erschien seine Witwe in der Wohnung der Langmosers und verkündete, dass es ab sofort mit dem Kohlegeschäft ein Ende habe. Langmoser müsse sich nach einer anderen Stelle umsehen – und nach einer anderen Wohnung.
»Schad is ja nicht grad um die drei rußigen Zimmer«, vertraute Anna ihren Verwandten an, als alle zusammen am Dreikönigstag bei Kaffee und Kuchen in der guten Stube am Himmelberghof saßen. »Dem Kohlnstaub wirst einfach nicht Herr. So schnell kannst du den nicht wegwischen, wie der wieder da is.«
Ihre Schwägerinnen nickten verständnisvoll.
»Kohlnstaub hin oder her«, sagte Annas Mann, »wir brauchen eine Bleibe. Wie kann
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