Der kleine Fluechtling
Knaben, diejenige, in deren Sekretariat Minna hockte und ihre Nase in jede Ritze, jede Fuge und vor allem in jede Akte steckte. Plattlinger Mädchen, die sich mehr als das kleine Einmaleins und mehr als einfache Rechtschreibregeln zutrauten, hatten (gegenläufig zu den Knaben) den Zug nach Deggendorf zu nehmen, wo man sie im Institut der Englischen Fräulein unterrichtete.
»Nonnen«, grummelte Minna, nachdem sie die Broschüre der Mädchenrealschule in Deggendorf eingehend studiert hatte, »frömmlerisch, kleinlich, engstirnig.« Sie konnte sich so gar nicht dazu überwinden, Carmen bei den Klosterfrauen anzumelden.
»Und überhaupt«, sagte sie zu ihrer Tochter, »ist Deggendorf ein unbedeutendes, rückständiges Kaff.«
Nach gründlichen Betrachtungen und Erwägungen entschloss sich Minna, die längeren Wege nicht zu scheuen und Straubing als Ort von Carmens Bildungsstätte zu wählen. Dort hockten zwar die Ursulinen in ihrem Kloster und zogen ganze Regimenter bigotter Weiber groß, doch das brauchte Minna nicht anzufechten, denn Straubing unterhielt (den Ursulinen zum Hohn) eine staatliche Mittelschule, die Mädchen und Jungen gemeinsam besuchten. Außerdem hatte die Bernauerstadt das Modehaus Hafner zu bieten und das Schuhhaus Tretter (was war das windige Kaufhaus Paul in Deggendorf dagegen?). In Straubing gab es ein Eisstadion und das berühmte Café Krönner, wo die legendäre Agnes-Bernauer-Torte gebacken wurde.
Straubing bietet dem Kind die richtige Atmosphäre, dachte Minna nach reiflicher Überlegung und entwarf etliche Strategien, die Carmen den Weg in die bessere Gesellschaft der Gäubodenstadt bereiten sollten.
Als Erstes staffierte sie ihre Tochter mit etlichen neuen Kleidungsstücken aus. Das nicht zu tun, sagte sie sich, wäre am falschen Ende gespart.
Im Grunde brauchte Minna überhaupt nicht zu sparen, denn sie bezog ein nettes Gehalt aus dem Plattlinger Kommunaletat, eine hübsche Hinterbliebenenrente aus dem bundesrepublikanischen Staatsetat und Zins mit Zinseszins aus dem Verkaufserlös vom Gugler-Hof.
Als Nächstes meldete sie Carmen zum Eislauftraining an.
Später, wenn der Schulunterricht einmal begonnen hatte, wollte sie dann weitere Maßnahmen ergreifen.
Im September 1957 war es schließlich so weit: Carmen fuhr morgens mit dem Sieben-Uhr-Bus von Plattling nach Straubing und kehrte mit dem Zwei-Uhr-Bus zurück. Nur mittwochs kam sie (wegen der Schulstunden am Nachmittag) mit dem Vier-Uhr-Bus heim.
Bereits im Oktober gestand sich Minna ein, dass es bisher keinen Unterschied machte, ob sich Carmens Schule in Straubing befand, in Deggendorf oder in Gugelöd. Denn der Weg ihrer Tochter führte beharrlich von der Bushaltestelle stracks ins Klassenzimmer und von dort wieder zurück.
»Hast du denn in Straubing noch keine Freundinnen gefunden?«, fragte Minna, und Carmen schüttelte den Kopf.
Offenbar traf sie – von zugeknöpften Lehrern einmal abgesehen – mit niemandem außer ihren Klassenkameraden zusammen, die etliche Cliquen gebildet hatten, von denen keine auf Zuwachs aus war.
»Die kennen sich halt alle von klein auf«, erklärte Carmen ihrer Mutter. »Neulinge finden da ganz schlecht Anschluss.«
Dem muss Abhilfe geschaffen werden, sagte sich Minna – sofort.
Am kommenden Sonntag nahm sie mit ihrer Tochter den Mittagsbus nach Straubing, flanierte mit ihr ein Stündchen durch die Gassen und setzte sich dann mit dem Töchterchen an einen Fenstertisch ins Café Krönner.
»Das behalten wir so bei«, sagte Minna bei Kaffee und Kuchen.
Sonntag für Sonntag belegten sie nun zwischen zwei und vier den Fensterplatz im Café Krönner. Punkt vier Uhr erhoben sie sich, schlugen den Weg zum Festplatz am Hagen ein, überquerten um vier Uhr zehn den Steg und umrundeten um vier Uhr fünfzehn die Eislaufbahn. Das Training selbst hatte leider aufgegeben werden müssen, weil sich Carmen schon in einer der ersten Übungsstunden den Knöchel verstaucht hatte, womit Minnas Traum vom Pas de deux sozusagen auf Eis lag.
Es wurde Frühling, und noch immer hatte sich aus Straubings guter Gesellschaft niemand gefunden, der Minna und Carmen gegenüber zu mehr als einer alltäglichen Floskel wie »Schöner Tag heute, wer weiß, wie lang das Wetter noch hält« bereit gewesen wäre.
Minna setzte neu an und brachte ihre Tochter im Kirchenchor und in der Laienspielgruppe unter. Das führte allerdings dazu, dass Carmen mit den Hausaufgaben in Rückstand geriet.
Da mahnte sich Minna zur
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