Der kleine Fluechtling
unserem Geschäft nur beste Qualität! Hier bei uns findet der anspruchsvolle Kunde Beinkleider aus Tweed, Shetland und Merino. Ich will nicht näher auf die verschiedenen Stoffe eingehen, denn in der Berufsschule wirst du noch genug darüber lernen. Aber merk dir schon jetzt: Qualität hat ihren Preis! Und das muss dem Kunden im Verkaufsgespräch unbedingt verständlich gemacht werden. Der Kunde muss begreifen«, sprach sie eindringlich weiter, »dass er mit einer hochwertigen Hose aus unserem Geschäft am besten fährt.«
Während Frau Bekkler redete, hüpfte der Schönheitspunkt, flatterten die lila Augenlider, lockten die glänzend roten Lippen.
Qualität hin oder her, sagte sich Gerda, ich wette, niemand kann Frau Bekkler widerstehn.
Die Chefin führte sie indessen zu den Musterkatalogen und erklärte ihr die unterschiedlichen Schnitte diversester Beinkleider. Als Frau Bekkler ans Telefon gerufen wurde, beauftragte sie Gerda, sämtliche leeren Hosenbügel von den Ständern einzusammeln.
»Ich bin der Didi, erster Stock, Mäntel, Sakkos, Westen – drittes Lehrjahr. Und du bist unser neuer Lehrling. Hab dich letzte Woch schon gsehn, aber ich hab keine Zeit ghabt, dass ich mal runtergschaut hätt zu dir.«
Ein pickeliger Blondschopf in einem vornehmen Anzug samt geschmackvoller Krawatte streckte die Hand aus. Gerda ergriff sie und starrte ihn an.
Didi grinste. »Elegante Arbeitskleidung. Da legen die Bekklers ganz großen Wert drauf.« Er musterte sie von oben bis unten. »Du solltest dir einen von den modischen Plisseeröcken zulegen. Gelb tät dir gut stehn. Bei Krauth is so einer in der Auslag. Aber wart lieber noch, bis der Schlussverkauf angeht, das zahlt sich aus.« Didi vollführte eine reibende Bewegung mit Daumen und Zeigefinger und fuhr dann fort: »Also, wennst was zum Abschreiben brauchst, in Warenkunde oder Verkaufstaktik, dann kommst zu mir, ich hab alles auf Lager.«
Gerda hatte gerade noch Zeit zu nicken, da war Didi schon wieder verschwunden.
Nach Feierabend sah sie ihn auf eine blaue Vespa aufsitzen und davonfahren. Sie selbst bestieg gegen halb sieben den Linienbus, der neuerdings morgens und abends zwischen Deggendorf und Neuhausen verkehrte.
Als Gerda zwei Tage später nach Ladenschluss aus der Hintertür des Bekkler’schen Modehauses auf die Straße trat, hielt die Vespa neben ihr an.
»Steig auf, ich fahr dich heim«, sagte Didi.
Gerda wusste inzwischen, dass sein richtiger Name Dieter Schulze war. Die Bekklers redeten ihn mit »Herr Schulze« an. Die beiden anderen Verkäufer, die seit Jahren bei Bekkler angestellt waren, nannten ihn Didi. Offenbar wollte er auch von Gerda so gerufen werden.
»Steig auf«, wiederholte er.
Gerda wäre liebend gern mitgefahren, schüttelte aber trotzdem den Kopf. Ihre Mutter hatte Verhaltensregeln aufgestellt, die sich mit einer Fahrt auf der Vespa eines pickeligen Ladenlehrlings nicht unter einen Hut bringen ließen.
»Danke, Didi«, sagte sie, »nett gemeint, aber meiner Mama wär das nicht recht.«
Entschlossen steuerte sie auf die Bushaltestelle zu.
»Verstehe«, hörte sie Didi noch sagen.
Sie hatte ungefähr die Hälfte des Weges zurückgelegt, als die Vespa wieder neben ihr bremste.
»Magst vielleicht eine Stadtrunde mit mir drehn? Is ja noch fast eine halbe Stund Zeit, bis dein Bus geht.«
»Hm«, machte Gerda. Natürlich wollte sie. Sie wollte sogar sehr.
»Jetz steig endlich auf«, sagte Didi.
Das tat Gerda dann auch und legte die Arme um seine Taille. Ihre Mutter musste ja nichts davon erfahren.
Die Stadtrunden bürgerten sich ein. Abends, bevor ihr Bus abfuhr, ratterte Gerda oft mit Didi auf der Vespa durch die Stadt. Manchmal dehnte sich die Spritztour bis zum Donauufer aus.
Teil VI
1
Bedächtig verging das Jahr 1961. Gerda bediente die Bekkler’sche Kundschaft, feierte ihren sechzehnten Geburtstag und drehte mit Didi Stadtrunden. 1962 kam sie ins zweite Lehrjahr und feierte ihren siebzehnten Geburtstag.
Es war in Gerdas drittem Lehrjahr, als Didi (inzwischen festangestellter Verkäufer bei Bekkler) an einem sommerlichen Samstag nach Feierabend die Vespa auf einem winzigen flachen Sandflecken abstellte, an dem die Donau müde leckte. Der Flecken lag einsam hinter den letzten Häusern der Stadt, einen Steinwurf vom ersten der Felder entfernt, die sich zwischen Deggendorf und Metten erstreckten. Jahrzehnte später sollte an diesem Ort ein Campingplatz angelegt werden, in den Sechzigern schnüffelte dort nicht einmal ein
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