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Der kleine Fluechtling

Der kleine Fluechtling

Titel: Der kleine Fluechtling Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jutta Mehler
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Geduld.
    »Lass uns stillhalten, bis du die Schule fertig hast«, sagte sie und meinte Carmen aufatmen zu sehen.
    Das Stillhalten fiel Minna jedoch zunehmend schwerer. Deshalb begann sie bereits lange vor Carmens Abschlussprüfung (im zeitigen Frühjahr 1960), die Straubinger Stadtverwaltung mit Gesuchen, Zeugnissen, Lebensläufen und mit der Trumpfkarte »Kriegswaise« zu bombardieren, und zwar so vehement, dass Carmen zu gegebener Zeit von der Schulbank nahtlos auf einen Bürostuhl im Einwohnermeldeamt überwechseln konnte.
    Als Carmen die Stelle antrat, gab ihr Minna folgende Worte mit auf den Weg: »Jeder Bürger, ob aus der Stadt oder draußen vom Land, muss irgendwann einmal beim Einwohnermeldeamt vorsprechen. Jeder, ob reich oder arm, ob Aristokrat oder Abschaum. Halt die Augen offen, Kind.«
    Im Mai 1962 erschien Wolli-Mausgesicht (inzwischen vierundzwanzig Jahre alt) in der Stadtverwaltung, weil sein Ausweis abgelaufen war. Er hatte sich ein paar Monate zuvor in Straubing ein kleines Apartment gemietet (die Nachtbars dort hatten es ihm angetan) und galt deshalb als Straubinger Bürger.
    Zwei Mädchen, die nächst der Pforte standen, kicherten verlegen, als er die Eingangstür öffnete, und gafften ihm nach, während er den Flur zur Passstelle hinunterging.
    Wolli hatte sich mit den Jahren gewissermaßen gemausert. Seine Schnauze wirkte längst nicht mehr so spitz, weil über seine Wangenknochen sanfte Hügel gewachsen waren. Ein Kinnbärtchen lenkte den Blick vom Überbiss ab, und eine getönte Brille kaschierte die unsteten Äuglein.
    Bei der Bundeswehreinheit von Bogen hatte es Wolli, nachdem er sich, kaum war der Grundwehrdienst abgeleistet, auf zwölf Jahre verpflichtete, inzwischen zum Feldwebel gebracht. Seither strahlte er Autorität und Selbstsicherheit aus. Eins fünfundachtzig groß, schlank, in grauer Hose und hellblauem Hemd, schritt er nun schneidig über das abgenutzte Linoleum im Flur des Einwohnermeldeamts. Am Ende des Gangs blieb er stehen, um sich zu orientieren. Murmelnd las er die Zuständigkeitsverweise an den Türen: »A bis K, K bis …«
    »Kann ich Ihnen behilflich sein?«, fragte eine liebenswürdige Stimme hinter ihm.
    Wolli drehte sich um und sah in ein Gesicht, das ihm so vertraut schien, als hätte er es seit seiner Kinderzeit Nacht für Nacht im Traum gesehen. Und es war so schön, dass es ihm den Atem nahm. Er schluckte.
    »Ich bearbeite die Anfangsbuchstaben K bis Z«, sagte Carmen und warf einen Blick auf den abgelaufenen Ausweis in seiner Hand. »Bei mir sind Sie richtig.«
    Goldrichtig, fand Wolli und folgte ihr in ein winziges Büro. Dort füllte er den Antrag aus, den Carmen ihm reichte. Anschließend fragte er sie, wann sie Mittagspause hätte.
    Carmen schaute auf die Uhr an der Wand, dann schaute sie Wolli an.
    »Zwölf Uhr dreißig im Café Isabell«, sagte er.
    Sie nickte sichtlich erfreut.
    Agnes-Bernauer-Torte hin oder her, was die Klientel unter vierzig betraf, war dieser Tage das »Isabell« angesagt. Man saß dort in Cocktailstühlchen an Panoramafenstern, schäkerte mit dem Mann am Klavier und gab sich modern.
    »Hhm«, machte Minna, »Feldwebel, hhm.«
    Da fehlten ja wohl noch ein paar Streifen zu einem wirklich hohen Rang. Andererseits glaubte Minna fest daran, dass nirgendwo eine steilere Karriere möglich war als bei der Armee.
    Der Soldat soll seine Chance bekommen, dachte sie.
    Sie wollte ihn keinesfalls in Bausch und Bogen ablehnen, wie sie es bei dem Kfz-Mechaniker gemacht hatte, mit dem Carmen ins Kino gegangen war, und mit den drei oder vier anderen Burschen, die an Carmen Interesse bekundet hatten.
    »Bring ihn her«, sagte Minna zu ihrer Tochter.
    An Carmens achtzehntem Geburtstag deckte sie den Kaffeetisch für drei Personen und wartete gespannt darauf, dass es drei Uhr schlug.
    Wolli erschien pünktlich auf die Minute. Er überreichte Minna einen Strauß Nelken und Carmen eine Silberbrosche in Schmetterlingsform. Dann setzte er sich auf den Stuhl am Tisch, den Minna ihm zuwies, und begann Süßholz zu raspeln.
    »Dieser Wolli«, flüsterte Minna später in Carmens Ohr, »scheint mir nicht von schlechten Eltern. Den halten wir uns warm.« Wehmütig dachte sie an diesem Abend an alte Zeiten in Majdanek, als sie und ihr verstorbener Mann noch jung gewesen waren. Wollis Erscheinung erinnerte sie ein bisschen an ihn. Wie das Schicksal manchmal doch spielte!
    Minna erlaubte ihrer Tochter, mit Wolli auszugehen, wann immer Carmen von ihm dazu aufgefordert

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