Der kleine Fluechtling
alsbald, an einem rosa Plastikhalm zu nuckeln, der in einer Flasche KeiLimo steckte.
Der Trompeter stimmte ein herzzerreißendes »La Paloma« an, das sämtliche Petticoats an den Oberschenkeln der dazugehörenden Tanzpartner plattdrückte, aber kaum war der letzte Ton wie Kuchenguss dahingeschmolzen, zwang die Band mit einem schwungvollen »Marina, Marina« (Rocco Granata wäre von der Interpretation hingerissen gewesen) die Tanzpaare auf Abstand und brachte sie gleich darauf mit einem fetzigen »Sugar Baby« (Peter Kraus wäre neidisch geworden) komplett außer Atem.
Tanzpause.
Die Musiker ließen die Instrumente, wo sie waren, stiegen vom Podium und hielten auf einen ovalen Tisch am Panoramafenster zu.
Gerda beobachtete, wie sich der bullige Schlagzeuger und der Gitarrist auf zwei Cocktailstühle an der Wand lümmelten. Der Trompeter und der Klavierspieler setzten sich mit dem Rücken zur Tanzfläche. Gerhard Schwarz sah sich einen Moment lang prüfend um, dann schob er einen grün-gelb gestreiften Kunstledersessel so in Position, dass er von jeder Ecke des Raumes aus zu sehen war. Und auf diesen Platz komplimentierte er das schönste Mädchen, das Gerda je gesehen hatte.
»Carmen«, wisperte Didi, und in seinem Flüsterton schwang pure Devotion.
Gerda fokussierte Gerhards Begleiterin: Rotgoldene Haare, die sich üppig wellten, über die Wangen flossen und in die Stirn fielen. Pechschwarze Wimpern. Blutrote Lippen. Ein hübscher Busen unter Kunstseide. Schlanke Taille und lange, lange Beine.
Der Blick auf Carmens Beine verursachte Gerda einen schmerzvollen Stich in den Magen.
Wimpern konnte man tuschen, Haare konnte man färben und aufdrehen, Lippen konnte man anmalen, aber die Form und vor allem die Länge der Beine ließ sich mit nichts ausbessern.
»Eine Marilyn Monroe mit Flammenhaar«, seufzte Didi. »Ich wett, die Kerle täten sich prügeln um sie, wenn net der Platzhirsch alleinigen Anspruch auf sie erhoben hätt, und er lasst sie nimmer aus.«
Wie auf Kommando nahm Gerhard Carmens Hand in die seine. Die beiden steckten die Köpfe zusammen und flüsterten, bis sie vom Kellner unterbrochen wurden, der Carmen ein Sektglas voll Vanilleeiskugeln servierte. In der obersten Kugel steckte ein winziger Sonnenschirm aus Papier.
Damit hat er seine Flamme für die nächste Viertelstund am Tisch festgenagelt, dachte Gerda, als sie sah, dass Gerhard aufstand und, gefolgt von den restlichen Spielern, wieder aufs Podium zusteuerte.
Minna hatte mit ihrer Prognose beinahe recht behalten, Carmens Körper hatte sich fast tadellos entwickelt. Die Beine waren erfreulich in die Länge gewachsen, die Taille hatte sich schlank gehalten.
Unterm Pullover wirkte der Busen formvollendet, doch das war Mogelei. Carmen betrog ihr Publikum mit Hilfe einer Lage Schaumstoff. Die Natur selbst hatte sie nur marginal mit Brust gesegnet. Ihre vielversprechenden Rundungen waren im Ansatz stecken geblieben.
Carmens Haar wellte sich beneidenswert üppig und glänzend, doch das kostete viel Mühe. Die bezaubernde Frisur verlangte Spülungen mit Malzbier (des Abends), Lockenwickler (des Nachts) und eine halbe Flasche Taft (des Morgens). Und nicht ohne Grund winkten reihenweise festgeklebte Sechserlocken über Stirn und Wangen. Sie tarnten Myriaden von Sommersprossen, die frech durch die Puderschicht lugten.
Schwerer zu verheimlichen als jeder andere Makel war jedoch das peinliche Erbe des Vaters. Carmen konnte es nur verbergen, indem sie sich das Lachen untersagte, denn im Laufe nachpubertärer Transformationen hatte sich ihr Oberkiefer langsam zugespitzt und zwei enorme Vorderzähne produziert. Hätte Carmen richtig zu lachen gewagt, dann wäre sie statt mit Marilyn Monroe mit einem Hamster verglichen worden.
2
Nachdem Minna und Carmen im Herbst ’55 nach Plattling umgezogen waren, hatte sich Minna voll und ganz darauf konzentriert, die Zukunft ihres Kindes zu planen. Anmut gepaart mit der nötigen Bildung sollten Carmen weit bringen.
»Hoch hinaus«, sagte Minna ein ums andere Mal. »Ich will dich in den besten Kreisen verkehren sehen.« Nachdenklich fügte sie jeweils hinzu: »Ein bloßer Volksschulabschluss macht sich da wohl nicht so gut.«
Folgerichtig entschied sich Minna, als die Zeit dazu gekommen war, ihrer Tochter eine höhere Schulbildung angedeihen zu lassen. Mittlere Reife musste allerdings ausreichen (Carmen würde sich mit dem Stoff ohnehin schwer genug tun).
Leider gab es in Plattling nur eine Realschule für
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