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Der kleine Fluechtling

Der kleine Fluechtling

Titel: Der kleine Fluechtling Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jutta Mehler
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Tritt gekommen war, traf allerdings ins Leere, weil Wolli einen Schritt nach hinten gemacht hatte.
    Wolli rückte wieder näher und versuchte, Carmen am Arm zu packen. Das trug ihm von Gerhard einen Nasenstüber ein.
    Nie hätte Ulrich damit gerechnet, dass Wolli darauf brutal mit dem rechten Knie antworten würde, das punktgenau auf Gerhards empfindlichste Stelle zielte.
    Einen Augenblick später wand sich Gerhard unterm Fensterbrett.
    Wolli hakte Carmen unter und floh mit ihr.
    Weit kam er allerdings nicht.
    Am Ausgang lächelte ihm Bulli entgegen. Neben ihm hatten sich Sabe, Ulrich und Anton in einer geschlossenen Reihe aufgestellt. Sie blickten ernst. Vier gegen einen. Was blieb Wolli da anderes übrig, als die Beute dem Feind zu überlassen und Fersengeld zu geben.
    Ulrich sah ihm mit einiger Besorgnis hinterher. »Mecht besser gwesen sein, der Gerhard hätt den Goldhamster dem Kommissratz überlassen.«
    »Meinst, der traut sich noch mal her, der Senkel mit dem Ratzengfries?«, fragte Bulli. »Die zwei Grabscheitel von Vorderzähn, die wo der hat, die tätn anständig krachn, wenn ich ihm in die Fressen reindresch«, setzte er prahlerisch hinzu.
    »Der Kerl mecht gewisslich nicht am helllichten Tag herkommen«, überlegte Ulrich laut. »Aber er wird auf Rache sinnen.«
    Leider lag Ulrich damit richtig.
    »Dem wern mir schon ordentlich auf die Finger haun, dem Feldratz«, erwiderte Bulli.
    Da musste Ulrich lachen. Bulli war in seinem Element. Endlich gab es nun wieder etwas, das es zu verteidigen galt. Früher hatte es sich um einen Haufen Ziegelsteine, manchmal auch um eine verrostete Blechbüchse gehandelt – jetzt war es ein Fang, den der Chef persönlich beanspruchte.
    Auf in den Kampf. Die Hafenbande meldete sich endgültig zurück.

3
    Der Reinkarnationsprozess der Hafenbande hatte Ende 1962 im Keller der Brauerei Keisling begonnen, nachdem Ulrich die einstigen Gefährten Bulli und Sabe nach dem Abschluss der Mittelschule gänzlich aus den Augen verloren hatte. Selbst mit Gerhard war er in den vergangenen zwei oder drei Jahren kaum noch zusammengetroffen.
    Seither hatten sich Bulli und Sabe mehr schlecht als recht bei Heizung-Sanitär-Wankel gehalten. Mit tätiger Hilfe ihres Handwerksmeisters (der wohl darauf hoffte, sie damit endlich loszuwerden) bestanden sie die Prüfungen für den Gesellenbrief im dritten Anlauf.
    Gerhard vertrieb indessen fleißig KeiLimo, Keislinger Apfel-Orange und KeiPep. Er begann, nach Geld und Einfluss zu riechen, verkehrte mit den Steinbruch-Blaumeiers und den Herrenmoden-Bekklers.
    Ulrich hockte in den Jahren ’56 und ’57 im technischen Büro der Deggendorfer Werft vor einem Zeichentisch und kopierte Bauteile aus Maschinenplänen. Zwischen den einzelnen Zeichenschritten wehte ihn manchmal ein Zerrbild an, das er lange nicht einordnen konnte. Das Bild erschien immer dann, wenn der Bürochef einen der Zeichner anschnauzte und ihn großtuerisch zur Schnecke machte, wenige Augenblicke später aber kleinlaut und kriecherisch vor dem Geschäftsführer buckelte.
    Als jener Bürochef eines Tages verkündete: »Ein Deutscher hat stets Linientreue zu beweisen«, zeigte sich das Bild plötzlich gestochen scharf.
    In Ulrichs Kopf blitzte überdeutlich ein Name auf: »Führertreu.«
    Nee, dachte Ulrich, sie wern gewisslich nicht aussterbn, die Linientreuen.
    Und er fühlte sich irgendwie fehl am Platz.
    Es war im dritten Lehrjahr, als Ulrich seine Nase über das Gros der technischen Zeichner hinauszurecken begann.
    Die indische Regierung hatte in jenem Sommer an die deutsche Firma »Linde Eis- und Kältemaschinen« den Auftrag vergeben, den Subkontinent mit Kühlhäusern auszurüsten, und die Deggendorfer Werft sollte für das Projekt überdimensional lange, kurvig verlaufende Röhren fabrizieren.
    Den halben Oktober lang tüftelte und knobelte das oberste technische Triumvirat an der entscheidenden Frage herum, wie es wohl gelingen könnte, kurze Rohrstücke zu einer Riesenschlange zu vereinigen.
    Ulrich kam spontan eine recht einfache Lösung in den Sinn, die er allerdings erst wochenlang mit sich herumtrug.
    Als der Liefertermin näher rückte und immer noch Hunderte von fertig zugeschnittenen Stahlplatten auf den Geistesblitz warteten, der sie verbinden sollte; als sich die Sorgenfalten auf der Stirn des verantwortlichen Diplom-Ingenieurs täglich vertieften, begann Ulrich mit Platten aus biegsamem Weißblech zu experimentieren. Schnell fand er bestätigt, dass sich seine Idee

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