Der kleine Fluechtling
Unbehaglich blickte sie sich um und steuerte dann auf einen kleinen Ecktisch zu.
Obwohl sich immer mehr Gäste zum Aufbruch bereit machten, wäre es für Gerda nicht ratsam gewesen, ebenfalls zu gehen, denn draußen hatte es zu nieseln begonnen, und der Bus zurück nach Neuhausen würde erst in einer guten Stunde abfahren.
Gerhard setzte das Saxophon ab, nickte seinen Gefährten zu und verschwand. Anton klappte den Klavierdeckel herunter, sammelte seine Noten ein und verzog sich.
Bulli und Sabe verständigten sich darauf, ihre Stammkneipe anzusteuern, wo die halbe Bier für sechzig Pfennig zu haben war und die Wände mit Pin-up-Girls tapeziert waren.
Gerda trat auf die Straße hinaus. Das Nieseln hatte sich zu einem satten Regen ausgewachsen. Bis zur Bushaltestelle waren es gut zehn Minuten zu gehen. Wie die frisch gelegte Wasserwelle und der neue Pullover aus Mohair danach aussehen würden, konnte sie sich an ihren fünf Fingern abzählen. Unschlüssig blieb sie in dem geschützten Durchgang zum Kaufhaus Paul stehen.
»Begleitdach gefällig?«
Gerda drehte sich um und fand sich auf Augenhöhe mit dem Trompeter der Hafenband. Er hielt einen Schirm über ihren Kopf.
»Hak dich unter, und ich bring dich trocken durch die Tropfen.«
Gerdas Augen schimmerten belustigt.
Wann hätt ich schon mal in Augen geschaut, die so einen angenehmen Glanz abstrahlen, dachte Ulrich hingerissen.
Ernst sah er Gerda ins Gesicht. »Musst dich nicht genieren, wo wir doch ganz alte Bekannte sind. Erinnerst du dich an unser Pläuschchen vor Tante Burgels Lebensmittelgeschäft?«
Gerda nickte und hakte sich ein.
Ulrich hatte sie sofort wiedererkannt, als sie das erste Mal mit diesem Schnösel im teuren Anzug ins Mitterwallner gekommen war. Obwohl sie ihm ausnehmend gut gefiel, hatte er sie auf der Stelle als vergeben abgeschrieben, bis ihm mit der Zeit aufgefallen war, dass sich die beiden nicht wie ein Liebespaar verhielten. Der Schnösel hatte – wie etliche andere auch – nur schmachtende Blicke für Carmen, und Gerda schien sich mehr für die Garderobe der Damen zu interessieren als für ihren Tanzpartner.
Nachdem diese Beobachtungen gemacht waren, hatte Ulrich Augen und Ohren intensiv offen gehalten; was jedoch gar nicht nötig gewesen war, denn um nicht alles Mögliche aufzuschnappen, hätte er sich seine Ohren rundweg zuhalten müssen.
Sabe kannte offenbar diesen Didi, weil beide eine Vespa besaßen. Gerhard hatte natürlich Umgang mit den Bekklers, die, wie sein Onkel, zur High Society von Deggendorf gehörten. Anton hatte neulich den Langmosers einen Besuch abgestattet, weil sie eine Haftpflichtversicherung abschließen wollten. Zudem blieben die Gäste des Mitterwallner sowieso nie unkommentiert.
Gerda galt als uninteressant – zu still, zu pummelig, zu wenig gesellig.
Ulrich gefiel sie von Woche zu Woche mehr. Sie schien ihm aufgeweckt und trotzdem bescheiden. Sie war immer geschmackvoll gekleidet, und selbst mit Absätzen brachte sie es nicht ganz auf seine Größe.
Die beiden waren bereits ein Stück gelaufen, als Gerda sagte: »Baust du inzwischen Schiffe?«
Ulrich schnaubte. »Wie käm ich denn dazu?«
»Weil du in der Werft angestellt bist, oder nicht?«
»Ja schon«, erwiderte Ulrich. »Aber Schiffe baue ich nach wie vor nicht.«
»Was machst denn dann jetz bei der Werft?«, fragte Gerda.
»Hauptsächlich hör ich mir Gezänk um Kompetenz und Befugnis an«, schimpfte Ulrich. Weil Gerda daraufhin sichtlich beklommen schwieg, erzählte er ihr, dass sich seine beiden Vorgesetzten – ein Abteilungsleiter und ein Diplom-Ingenieur – ständig in den Haaren lagen, während er selbst seit Wochen lustlos an einem Pumpmechanismus für Saugbagger herumtüftelte, einer reizlosen Apparatur, deren Bestimmung es sei, Kieswerke trockenzulegen. »Macht absolut keinen Spaß, wenn sonst niemand Interesse für Kolben und Ventile aufbringt.«
Während er redete, hatte Ulrich an Marschtempo zugelegt. Die Bushaltestelle flog vorbei. Ulrich schwenkte in die Mettener Straße ein.
»Wo gehen wir denn eigentlich hin?«, fragte Gerda.
»Du wohnst doch in Neuhausen, Villa Katherina«, antwortete Ulrich und fügte dann leise hinzu: »Mit einer Vespa kann ich leider nicht dienen.«
Vor lauter Schreck vergaß Gerda zu antworten. Der Trompeter wollte mit ihr die ganze Strecke zu Fuß gehen. Wie viele Kilometer waren es noch gleich? Vier? Fünf? Egal.
Gerda schüttelte den Kopf, als wollte sie sagen: Wer braucht schon eine
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