Der kleine Fluechtling
Zeit – regelmäßige Bahnfahrten hätten sein Budget schneller aufgefressen, als es mit dem Lötkolben aufzufüllen gewesen wäre – einmal wieder für ein paar Tage nach Deggendorf kam, erzählte ihm Anton, er habe Gerhard Schwarz, den ehemaligen Bandenchef, Saxophon spielen gehört: »Einsame Klasse.«
Ein bisschen neidisch war Ulrich damals schon gewesen, als er hörte, dass Gerhard zum Abschluss der Mittelschule von seinem Onkel Keisling ein Saxophon geschenkt bekommen hatte mitsamt einem Gutschein für zwei Unterrichtsstunden pro Woche. Aber so lief es halt, einige waren privilegiert, andere nicht. Die Scheller-Jungen hatten sich immer, wenn sie Musik machen wollten, mit selbst gebastelten Instrumenten begnügen oder sich eines ausleihen müssen. Dabei zeigten sie auf musikalischem Gebiet erstaunliches Talent. Ulrich noch mehr als Anton. Einfache Melodien meisterte er – ob auf einer Geige, einem Akkordeon oder einem Blasinstrument – schon nach wenigen Minuten, und seit ihn die Argentinier inspirierten, hatte er sozusagen ein autodidaktisches Wunder vollbracht.
Anton konnte da nicht mithalten. Ihm kam jedoch die enge Freundschaft mit einer gut gestellten Deggendorfer Bürgerstochter zupass, in deren Elternhaus ein Flügel stand, auf dem er inzwischen recht hörenswert spielte. Wenn Anton sagte, Gerhards Darbietungen auf dem Saxophon seien »einsame Klasse«, dann musste es der ehemalige Chef der Hafenbande zu einiger Perfektion gebracht haben. Ungestüm zog es Ulrich zur Brauerei Keisling, wo sich Gerhard im Keller einen Raum eingerichtet hatte, in dem er musizierte. Mitsamt seiner Trompete machte er sich auf den Weg, kehrte jedoch auf Höhe der Pferdemetzgerei Fenzl wieder um.
Sachte, sagte er sich. Gut Ding braucht Weile. Nichts überstürzen. Lentamente. Sosehr er auch darauf brannte, Gerhard spielen zu hören, sowenig wollte er sich mit dem eigenen Spiel vor ihm und eventuellen weiteren Zuhörern blamieren. Deshalb zwang sich Ulrich zur Geduld. In Gerhards Musikkeller würde er erst auftauchen, wenn er noch etwas mehr vorzuweisen hatte.
Bis zu den Osterfeiertagen übte er nun täglich mit den Argentiniern.
Am Karsamstag nahm er den letzten Zug nach Deggendorf und gab am Ostermontag im Keisling-Keller »In The Mood« zum Besten. Bei »Take The A-Train« setzte Gerhard mit dem Saxophon ein. »Goody Goody« spielten sie, als hätten sie das Stück gemeinsam komponiert.
Anton saß an dem alten Klavier, das neben einem gut erhaltenen Schlagzeug in Gerhards Kellerstudio stand, und klimperte, was ihm harmonierend dazu erschien.
In den Spielpausen redeten sie von alten Zeiten. Gegen Mitternacht meinte Ulrich: »Es könnt ja aus der Hafen bande eine Hafen band werdn.«
»Als Band vor Publikum auftreten, ja, das wär bärig«, antwortete Gerhard.
Anton schüttelte den Kopf. »Als ob der Sabe oder der Bulli ein Instrument spielen könnten.«
»Fragn kost nix«, sagte Ulrich.
Da stimmten ihm die beiden anderen zu, und sie entschieden einhellig, nach Bulli und Sabe zu fahnden. Die Recherchen mussten allerdings Gerhard und Anton allein übernehmen, weil Ulrich anderntags in den Hörsaal zurückzukehren hatte.
Anton hatte nach seinem Mittelschul-Abschluss eine Lehre als Versicherungskaufmann durchlaufen und arbeitete seither in einer Deggendorfer Agentur. Im Übrigen hatte er noch immer die »Dame mit dem Flügel« zur Freundin, die gleichzeitig die Tochter seines Chefs war. Die beiden begannen allmählich Heiratspläne zu schmieden. An Samstagabenden gingen sie meist zusammen aus, besuchten mal dieses Lokal, mal jene Kneipe in der Stadt. So kam es eigentlich gar nicht von ungefähr, dass Anton eines Samstags (es war im Weißbräustüberl) auf Sabe stieß. Überraschend war allerdings zu erfahren, dass der frühere Gefährte eine Gitarre besaß (es empfiehlt sich, nicht nachzufragen, woher sie kam), auf der er zu allen möglichen Radiosongs mitklimperte.
Gerhard traf Bulli eines Nachmittags mit einer Fischsemmel in jeder Hand vor der Nordseehalle. Leider stellte sich heraus, dass Bulli musikalisch ebenso unterbelichtet war wie in allen anderen Fachbereichen.
»Kein Grund, die Flinte ins Korn zu werfen«, schrieb Ulrich auf einer Postkarte (mit dem Münchner Kindl auf der Vorderseite) nach Deggendorf, »setzt ihn ans Schlaginstrument.«
Bulli ergriff begeistert die Trommelschlegel und begann, die Rindshaut zu traktieren. Gerhard klopfte den Rhythmus, den Bulli übernehmen sollte, geduldig auf den
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