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Der kleine Fluechtling

Der kleine Fluechtling

Titel: Der kleine Fluechtling Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jutta Mehler
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großzügig erweitert und einen neuen Geschäftszweig (Damenoberbekleidung: Kostüme, Kleider, Blusen, Röcke und Accessoires) aufgebaut. Nachdem Gerda ihre Lehrzeit beendet hatte, war sie als Verkäuferin in diese neue Abteilung übernommen worden.
    Seither spielten sich sie und Didi die Kunden zu wie Federbälle. Während Didi einem Herrn die Hosenlänge absteckte, pries er beispielsweise die neueste Kollektion gerüschter Sommerblusen an (»So ein kleines Präsent macht gleich jeden Zwist vergessen.«) und sorgte dafür, dass der Kunde in der Damenabteilung landete. Gerda bediente sich derselben Taktik: Während sie ihren Kundinnen bei der Anprobe zur Hand ging, schwärmte sie von den Herrenhemden, die neu eingetroffen waren. (»Sie sollten sie sich wirklich ansehen, und ich wette, Sie werden die alten Popelinehemden Ihres Mannes samt und sonders aussortieren wollen.«)
    Gerda tat die Anerkennung, die ihr die Mutter von Frau Bekkler übermittelt hatte, mit einem Schulterzucken ab.
    »Die Bekklers haben keine Kinder«, sagte Anna.
    Auch das war kein Geheimnis in einer Stadt wie Deggendorf.
    »Frau Bekkler setzt ihr ganzes Vertrauen in Dieter Schulze und in dich, Gerti«, fuhr Anna fort. »Die Bekklers wollen Dieter sogar zum Geschäftsführer machen …«
    Der Prinz, der Ritter, der Kaufmann – würde Anna jemals aufgeben?
    »Wenn dich der Dieter heut nach dem Tanztee heimbringt, dann sagst zu ihm, er soll zum Abendbrot dableiben«, bestimmte Anna abschließend.
    Gerda nickte. »Wennst meinst.«
    Doch Didi sollte nicht in den Genuss eines Abendessens bei Langmosers kommen, denn an diesem Sonntag fiel der Auftritt der Hafenband aus.
    Gerda und Didi saßen ein halbes Stündchen (eher lustlos) im Mitterwallner herum, dann ließ sich Gerda von ihm nach Hause fahren. Weil es aber erst Nachmittag war, als die beiden in Neuhausen ankamen, und die Frage, was die Hafenband wohl am Spielen gehindert hatte, sowieso alle anderen Themen verdrängte, sprach Gerda die Einladung nicht aus.
    »Bis morgen wird sich schon herumgeredet haben, was los ist«, meinte Didi und ratterte davon.
    Der Klatsch über die Hafenband hielt sich die ganze Woche. Zwischen Rathausturm und Spitaltor, zwischen Pfleggasse und Stadtgraben tratschte und tuschelte es.
    »Der Keisling junior rührt sein Saxophon nimmer an.«
    »Der Keisling junior is nicht nüchtern worden, seit ihn das rothaarige Weibsbild sitzen hat lassen.«
    »Die is mit so einem Heini vom Film durchbrennt.«
    »Geh weiter, die is doch net so blöd und brennt durch, wenn sie beim Keisling einheiraten kann.«
    Ein Gerücht jagte das andere.
    Doch was wirklich geschehen war, sollte nie publik werden.
    Am Sonntag darauf fand sich die Hafenband wieder im Mitterwallner ein. Gerhard behandelte sein Saxophon, als wäre es ein löchriger Gartenschlauch. Er wirkte wie ein Zombie und starrte mit Basiliskenblick auf Carmens Platz, der leer blieb.
    »Aus, Schluss, vorbei, Feierabend«, sagte Anton auf dem Nachhauseweg, und es klang hörbar erleichtert (neulich hatte ihm die Tochter seines Chefs vor einem halben Hundert Hochzeitsgästen das Ja-Wort gegeben, allerdings nicht bedingungslos). »Die Hafenband kann das Handtuch werfen.«
    Ulrich wollte es nicht wahrhaben. »Schaut so aus, als müssten wir uns nach einem andern Pianisten umtun«, sagte er zu Bulli und Sabe, nachdem Anton in die Straße abgebogen war, in der seine Wohnung lag.
    Sabe lachte freudlos. »Was nützt uns ein Klavierklimperer, wo dem Chef das Saxophon vor der Goschen hängt wie einem Esel der leere Hafersack?«
    Bulli nickte. »Ja nix – oder?«
    »Der Chef«, fügte Sabe hinzu, »der is uns abgsoffn.«
    »Cherchez la femme«, murmelte Ulrich.
    »Böhmische Sprüch helfen auch keinem was«, erwiderte Bulli.
    Die Hafenband hatte für den letzten Septembersonntag 1964 eine Abschiedsvorstellung angekündigt, und Didi hatte gesagt, er würde Gerda abholen kommen, wie er es immer getan hatte, als die Band noch regelmäßig spielte.
    Doch diesmal wartete Gerda vergeblich auf ihn.
    Weil um fünf Uhr noch immer keine Vespa zu hören war, stieg sie kurz entschlossen in den Linienbus nach Deggendorf.
    Im Mitterwallner waren die meisten Tische leer. So steil der Stern der Hafenband emporgestiegen war, so jäh war er gefallen, seit Gerhard nur noch als Schatten seiner selbst auftrat.
    Gerda drückte sich eine Weile neben der Bühne herum und sah Bulli zu, wie er das Schlagzeug traktierte. Als er ihr zuzwinkerte, schaute sie schnell weg.

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