Der kleine Flügel: Eine phantastische Geschichte mit Musik (German Edition)
Licht durchflutet, und durch die großen Fenster mit den Spitzbögen sah er, wie draußen die Sonne hinter einer Wolke hervorbrach, und ihre Strahlen tauchten die ganze Halle in ein goldenes Licht. Die Säulen und der glänzende Marmorfußboden leuchteten jetzt noch heller als zuvor, und durch das Fenster konnte man bis an den Horizont der schneebedeckten Berge sehen. Er wusste, dass es hier in der magischen Musikwelt eigentlich keine Sonne gab, sondern nur den fahlen Notenmond. Doch in seinem Traum erhellte sie mit ihrem warmen Licht das Innere des Turmes.
Alle Instrumente hatten sich festlich herausgeputzt und lauschten gebannt seinen Tönen, die laut und kräftig die Halle erfüllten.
Sein Korpus glänzte in seinem blankpolierten Schellack-Kleid, und die Schriftzüge seines Namens an der Seite und im Deckel waren als Intarsien aus purem Gold in die spiegelglatte schwarze Oberfläche eingelassen: «Steinway». Und daneben prangte das Emblem der berühmten Firma – eine Lyra mit drei Saiten. Unzählige Lichtquellen richteten sich von allen Seiten auf ihn, und er warf sie stolz mit seiner Oberfläche sternförmig in alle Richtungen zurück. Sein strahlendes Ebenbild spiegelte sich in den glatten Steinwänden des Turmes wider.
Als sei er selbst nur ein Konzertbesucher, lauschte der Flügel eine Weile seinem eigenen Spiel. Er erkannte das berühmte cis-Moll-Prélude von Rachmaninow, das schon seit langer Zeit eines seiner liebsten Klavierstücke war. Plötzlich gab er die Position des Betrachters auf und schlüpfte in sich selbst hinein, um als Interpret der Komposition seinen ganz persönlichen Ausdruck verleihen zu können. Wie Tautropfen ließ er die Melodiefäden über Rachmaninows Akkord-Architektur perlen und fühlte sich großartig.
Die körperlich spürbare Bewunderung der anderen Instrumente und der donnernde Zwischenapplaus spornten ihn zusätzlich zu Höchstleistungen an. Selbst die Guarneri verbeugte sich, als sie sein Blick streifte. Und da: die Celesta. Als er sie sah, ihre Begeisterung spürte, wurde ihm ganz warm um die Saiten. Was war das? Dieses Gefühl hatte er bisher nicht gekannt.
Aber plötzlich änderte sich das Licht. Wie helle Nebelschwaden floh es aus der Halle, als sich die Decke öffnete und Theodora sichtbar wurde. Wie eine gigantische Krake hockte die Orgel auf ihrem Thron und starrte wütend mit ihrem Auge auf ihn hinab.
Der Flügel spielte weiter, doch er spürte Theodoras brennenden Blick auf sich wie sengende Sonne in einer Wüste. Er war kurz davor, in Panik wegzurollen, aber in diesem Moment übernahmen die schwebenden Finger wieder das Spiel. Der Flügel schwebte nun über sich selbst und sah auf sich hinab.
Sein Blick fiel auf den Schriftzug «Steinway» und das Emblem darunter, die dreisaitige Lyra. Und auf einmal raste dieses Emblem in Sekundenschnelle auf ihn zu, bis er es übergroß vor sich sah – ebendiese Lyra, das erste Saiteninstrument, der Urahn des Flügels, begann nun blau aufzuleuchten. Erst eine Saite, dann die zweite, die dritte, und dann ertönte ein klagender Ton, als ob etwas fehlen würde. Und wie in weiter Ferne schwebte plötzlich hinter dem Emblem eine vierte Saite und verschwand wieder. Die Lyra! Sie wollte ihm etwas sagen. Aber was?
Plötzlich zischte es über ihm bedrohlich. Eine lang-gezogene Orgelpfeife, aus deren Ende eine spitze Klaue ragte, schoss von oben in seine Richtung herab, drang krachend in die Holzverkleidung des Flügels, riss das Emblem der Lyra heraus und verschwand wieder im Leib der Orgel.
Abrupt stoppte das Spiel des Flügels. Er sah hoch zu Theodora, die nun zufrieden auf ihrem Thron hockte und ihr Auge schloss.
Ein Wimmern ertönte, es kam aus dem hinteren Teil der Halle. Dort, wo das Monument stand. Der Flügel war nun gänzlich allein in der Halle. Alle anderen Instrumente schienen spurlos verschwunden zu sein. Wieder ertönte das Wimmern. Der Flügel rollte los. Schnell hatte er das Ende der Halle erreicht, und die Tür zur Kammer des Monumentes öffnete sich. Und da stand es: mächtig, schweigend und drohend – das Denkmal der Theophanu.
Da! Wieder das Wimmern.
Der Flügel spürte, dass es aus dem Inneren des Monumentes kam. Und dann sah er es. Erst nur ganz undeutlich, wie kleine Blitze, aber dann, nach und nach, erkannte er ein bläuliches Schimmern, das durch kleine Ritzen aus dem massiven Kern des Monumentes kroch. Und auf einmal wurde das steinerne Fundament des Denkmals für einen winzigen Moment
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