Der kleine Flügel: Eine phantastische Geschichte mit Musik (German Edition)
die Säge erneut:
«Ein Klavier. Ein Klavier. Wir danken dir dafür.
Nein, es ist sogar ein Flügel. Er sieht nett aus, gar nicht übel.
Aber kann man ihm auch wirklich trauen?
Müssen wir ihn hier jetzt hart verhauen?
Weil er lügt, so wie gedruckt?
Ohne dass die Wimper zuckt?
Obwohl – da bin ich aber platt –
Er gar keine Wimpern hat.
Kann er also auch nicht lügen?
Täuschen, stehlen und betrügen?
Lasst mich in sein Inneres glotzen.
Und ich werd’ jubeln – oder kotzen!»
«Bitte öffne deinen Deckel», bat der Bergkönig, und der Flügel tat es. Die Säge schwebte über seine Saiten, summte: «Check it out, man. Check it out», stand dann starr in der Luft, rülpste, raste zurück zum Bergkönig und grölte:
«Auf der Hand liegt der Befund:
Dieser Flügel ist gesund.
Reinen Herzens. Ohne Lüge.
Voller heißer Wahrheitsliebe.»
Dann schwieg die Säge. Der Bergkönig erhob sich, strich fast zärtlich über die Oberfläche des singenden Orakels und sagte: «Danke, Orakel. Du warst mir, wie immer, eine große Hilfe. Erlaubst du, dass dich die Wächter jetzt wieder in deine Kammer bringen?»
«Nein. Njet. No. Non!», schrie die Säge und wand sich. «Ich will bleiben. Ich will alle unterhalten. Ich habe einen Song vorbereitet. Er hat nur achthundert Strophen. Reime zum Niederknien. Große Dichtkunst. Jahrhundert-Poesie. Wir machen einen Poetryslam. Bitte bringt mich nicht weg!»
Der Bergkönig nickte den Wächtern zu, die die Säge sanft, aber bestimmt ergriffen und in den hinteren Teil der Halle führten. Man hörte nur noch das leiser werdende Geräusch eines abstürzenden Flugzeuges, eines entgleisenden Zuges, einer Bombenexplosion, und dann war Ruhe.
Der Bergkönig sah auf die verdutzten Gefährten hinab und sagte: «Entschuldigt bitte, vor allem du, kleiner Flügel. Ich musste mich vergewissern, dass du die Wahrheit sagst. Zu bitter ist das, was ihr mir erzählt habt. Ich muss jetzt darüber nachdenken. Seid meine Gäste für ein paar Tage. Dann sehen wir weiter.»
Und so zogen der Flügel, Strato, Fendi, Tri und Moog für ein paar Tage in ein sehr hübsch eingerichtetes Zimmer im hinteren Teil der gigantischen Halle des Bergkönigs. Die Wände waren mit Trommelfellen unterschiedlichster Art bespannt, ein wärmendes Feuer brannte in einem Kamin, und die fünf Freunde fühlten sich schnell sehr wohl.
Schon am nächsten Morgen trafen sie sich mit verschiedenen Trommeln und Schlaginstrumenten zu spontanen Konzerten. Besonderen Spaß machte allen Maurice Ravels berühmtes Stück «Boléro», weil es so einen schönen Rhythmus hatte, der von den Schlaginstrumenten in großer Zahl gespielt wurde. Auch der Bergkönig nahm an diesen musikalischen Treffen teil, die in die Geschichte der Halle als die legendären «Friends-&-Family-Konzerte» eingingen.
Eines Abends aber bat der Bergkönig den Flügel zu sich und sagte: «Folge mir, mein Freund, ich will dir etwas zeigen.» Er erhob seine mächtige Gestalt und ging voran durch die Halle, bis er und der Flügel vor einer großen, verschlossenen Tür standen. «Hier geht es hinab in die Katakomben, zu denen nur ich Zutritt habe. Du aber sollst sehen, was sich hier verbirgt.»
Dann öffnete er mit einem schweren Schlüssel die Tür und ging eine breite Rampe hinab in die weiträumigen Katakomben seiner Halle. Der Flügel folgte ihm, und am Ende der Rampe hörte er schon leises Plätschern und Gluckern, bevor er schließlich sah, was ihm der Bergkönig zeigen wollte.
«Das», sagte der Herrscher der Rhythmen, «ist die Blaue Lagune.»
Der Flügel blickte auf einen kleinen See mit bläulich schimmerndem Wasser, der sich inmitten bizarrer Felsformationen gebildet hatte.
«Du weißt ja», fuhr der Bergkönig fort, «dass ich Theodora immer wieder Schlaginstrumente für ihre perfekten Konzerte leihe. Zur Belohnung lädt sie deren Trommelschlägel mit ihrer sonderbaren blauen Energie auf. Ich lege sie hier hinein, das Wasser nimmt die Energie auf und wird zu einer Art flüssigem Licht. Und ab und zu träufele ich mir zur Nacht etwas davon auf mein Fell und habe dann wunderbare, aber manchmal auch seltsame Träume.»
Der Flügel starrte in die Blaue Lagune. Dieses Licht kannte er – aus jener denkwürdigen Nacht, als er von den Schergen des Turmes mit dem unheimlichen Ritual von Lützenried aus in das magische Land der Musik gezaubert wurde. Mit diesem Licht und seinen magischen Kräften belohnte Theodora also den Bergkönig für seine
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