Der kleine Flügel: Eine phantastische Geschichte mit Musik (German Edition)
mit Verlaub – die Strapazen der Reise an.»
Die Gefährten schauten einander an. Und tatsächlich: Erst jetzt bemerkten sie, dass jeder von ihnen recht staubig war und Beulen und Kratzer hatte. Der Deckel des Flügels saß nach dem Zusammenstoß mit der Fledermaus sogar etwas schief.
Der Bergkönig klatschte in die Hände, und aus der Schar der Schlaginstrumente löste sich eine Gruppe von Trommelständern, in deren Halterungen Tücher, Lappen, Schwämme und Werkzeuge klemmten. Und sofort begannen diese dienstbaren Geister, die fünf Freunde zu putzen, zu reparieren und zu polieren.
«Wow, das tut gut», sagte Strato. «Ich hab echt Saiten-Kater.»
«Krasse Massage», brummte Fendi.
«Mein Deckel fühlt sich an wie neu!», konstatierte zufrieden der Flügel.
«Ich krieg ’ne Gänsehaut auf meinen Modulen», seufzte Moog.
«Ausgebeult lebt es sich ja doch etwas angenehmer», flötete Tri.
Nach ihrer Schönheitsbehandlung bat der Bergkönig die nun wieder in altem Glanz funkelnden Freunde, es sich vor seinem Thron gemütlich zu machen: «Meine Wächter haben mir gemeldet, dass ihr mir etwas Wichtiges erzählen wollt. Nur zu. Ich höre.»
Der Flügel rollte vor und begann, dem Bergkönig von seinen Erlebnissen im Turm und vor allem von dem bösen Plan der Orgel zu berichten, von deren Verlangen, auch die Welt der Menschen zu beherrschen, und ihrem Wunsch, den Bergkönig zu entmachten.
Der hörte aufmerksam zu. Erst still, dann rutschte er unruhig auf seinem Stuhl hin und her, und schließlich, als es um seine Entmachtung ging, sprang er mit seiner ganzen schweren Paukengestalt auf und schrie mit fuchtelnden Armen und bebendem Fell: «So eine fiese Sauerei. So eine säuische Fiesheit. Ich fasse es nicht. Ich …»
Der Bergkönig hielt inne. Dann ließ er sich mit einem Stöhnen wieder auf seinen Thron fallen. Bisher war das Ganze nur eine Behauptung von ein paar – zugegeben, sehr mutigen – Instrumenten. Er blickte die fünf lange an. Berichtete ihm dieser Flügel wirklich die Wahrheit? Würde Theodora ihm wirklich so übel mitspielen? Na ja, dachte er. Zuzutrauen wäre es ihr. Und dann dieser Plan, die magische Drift zu nutzen, um die Menschenwelt zu erobern. Konnte ihm das nicht egal sein? Nein, es war ihm nicht egal, das spürte er. Aber was tun? Wie konnte er, der Herrscher der Rhythmen, sich sicher sein, dass er gerade die Wahrheit erfahren hatte? Da half nur eines: das Orakel. Auch wenn es schwerfiel. Das Orakel war eigentlich kein Instrument, deshalb vagabundierte es überall herum und fiel allen auf die Nerven. Niemand wusste, wie es in die magische Welt gekommen war, aber der Bergkönig hatte schließlich entdeckt, dass das «Ding» nicht nur nervte, sondern die Fähigkeit hatte, Dichtung und Wahrheit trennscharf voneinander zu unterscheiden. Es merkte, wenn jemand log. Deshalb ließ der Bergkönig es in seinem Reich wohnen.
«Flügel», sagte er. «Dies sind harte Anschuldigungen. Ich muss deine Glaubwürdigkeit testen.»
Er wandte sich an seine Wächter: «Bringt mir das Orakel.»
Die zuckten kurz zusammen, rückten dann aber ab und verschwanden im hinteren Teil der Halle. Aus der Schar der Trommeln, Becken und Rasseln kam missbilligendes Tuscheln.
Schließlich kehrten die Wächter zurück, und zwischen ihnen schwebte eine sogenannte singende Säge, aus der rhythmisches Hecheln, Heulen und Klappern und schauerliche helle Töne drangen. Die sonderbaren Geräusche wurde immer lauter.
Die Wächter eskortierten die Säge bis zum Thron, und die singende Säge begann zu rappen:
«Ich bin die Wahrheit. Wer stört meine Ruhe?
Wollt ihr die Klarheit? Dann küsst meine Schuhe.
Aber ihr seht: Ich trage gar keine.
Ich bin ja ’ne Säge, und ihr seid bloß Schweine!»
Dann schrie sie hell und kreischend «Yeah!», imitierte das Geräusch einer Kreissäge, rief «Aua» und schwieg.
Der Bergkönig lächelte gequält. Das Orakel war wirklich eine Nervensäge und zudem unfassbar unverschämt, auch zu ihm. Aber es konnte eben untrüglich erkennen, ob jemand log oder nicht.
«Liebes Orakel», begann er. «Du siehst hier einen Flügel stehen, der mir gerade eine ziemlich erschütternde Geschichte erzählt hat. Bitte teste: Sagt dieses Instrument die Wahrheit?»
Die Säge leuchtete rosa auf, begann zu heulen, drehte sich wie irre, stoppte dann abrupt und flog zum Flügel. Ein großes, dreidimensionales Auge zeigte sich auf einmal auf ihrem Sägeblatt, das nun den Flügel fixierte. Dann rappte
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