Der kleine Flügel: Eine phantastische Geschichte mit Musik (German Edition)
Dienste.
«Du bist ein besonderes Instrument», fuhr der Bergkönig fort. «Und mit Abstand der tapferste unter deinen Freunden. Aber die Aufgabe, die du dir vorgenommen hast, der Kampf gegen Theodora, ist titanisch. Niemand hat das je gewagt. Vor allem nicht ein kleiner Flügel. Ich habe nachgedacht: Ich selbst kann und werde in diesen Kampf vorerst nicht eingreifen. Theodora und ich beherrschen unsere jeweiligen Gebiete. Ich die Berge, Theodora die Ebene. Es gibt ein Gleichgewicht der Herrscher. Nie hat sich einer gegen den anderen offen erhoben. Würde ich mit einer Armee von Trommeln den Turm angreifen, gäbe es eine gewaltige Schlacht mit vielen Toten. Und das will ich nicht. Glaub mir: Theodora ist auf einen solchen Angriff vorbereitet. Sie überlässt nichts dem Zufall.»
«Aber sie will dich entmachten, Bergkönig», rief der Flügel. «Sie will dir die Herrschaft über die Schlaginstrumente streitig machen!»
«Und dank dir, Flügel, bin ich gewarnt und kann Vorkehrungen treffen. Du solltest mit deinen Freunden hierbleiben und abwarten, was geschieht. Wir brauchen Zeit. Mir tut die Welt der Menschen auch leid, falls sie an Theodora fallen sollte, aber ich herrsche hier in den Bergen über die Rhythmen und kann und will nicht Schlachten in anderen Dimensionen schlagen.»
«Niemals», antwortete der Flügel leise, aber bestimmt. «Wir haben keine Zeit. Der Notenmond steht bald hoch am Himmel. Wer weiß, ob die Orgel nicht längst einen anderen Flügel hat und die magische Drift vorbereitet? Ich kann hier nicht warten und die Welt meines Freundes Ogermann ihrem Schicksal überlassen. Ich muss zurück und irgendetwas tun.»
«Aber was?», fragte der Bergkönig. «Was will ein kleiner Flügel gegen das mächtigste Musikinstrument der Welt unternehmen?»
«Ich weiß es nicht», flüsterte der Flügel und starrte benommen in das bläulich schimmernde Wasser der Lagune.
«Das habe ich mir gedacht, du mutiger kleiner Flügel. Und ich will versuchen, dir zu helfen», sagte der Bergkönig schließlich. «Lass mich ein wenig vom Wasser der Lagune auf deine Saiten träufeln. Dann wirst du heute Nacht träumen. Und wer weiß: Vielleicht weisen dir die Träume einen Weg.»
Der Flügel zuckte zurück. Er sollte erneut mit dem magischen Licht, mit dem Theodora die Instrumente entführte, in Kontakt kommen? Es freiwillig in sein Inneres aufnehmen? Auf keinen Fall. Schon wollte er das Angebot des Bergkönigs dankend, aber entschieden ablehnen, da erinnerte er sich plötzlich wieder an die Worte des alten Blüthners, der das Seikilos-Lied zitierte:
Solange du lebst, tritt auch in Erscheinung.
Traure über nichts zu viel.
Eine kurze Frist bleibt zum Leben.
Das Ende bringt die Zeit von selbst.
Ja, eine kurze Frist blieb ihm nur. Warten konnte er nicht. Er musste etwas wagen. Was konnte ihm schon passieren? So weit weg von Theodora? Inmitten der Halle des mächtigen Bergkönigs?
«Ja», sagte er dann. «Ich will träumen.»
Er öffnete seinen Deckel, und der Bergkönig nahm einen Kelch, tauchte ihn in das Wasser der Lagune und träufelte ein paar Tropfen des bläulich schimmernden Wassers auf die vor Aufregung zum Zerreißen gespannten Saiten des Flügels.
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Der Traum
D er Flügel spürte ein seltsames Prickeln auf seinen Saiten. Ein sonderbarer Ton erklang, der nicht von ihm stammte. Dann war alles wie vorher. Zusammen mit dem Bergkönig verließ er die Katakomben und rollte durch die mittlerweile dunkle Halle zurück in das Zimmer, das er mit seinen Freunden bewohnte.
Die hatten sich vor dem brennenden Kamin niedergelassen und schreckten hoch, als sich die Tür öffnete.
«Da bist du ja endlich!», rief Strato. «Wir haben uns schon Sorgen gemacht.» Die anderen nickten und sahen ihn ebenso erleichtert wie neugierig an.
«Ach», antwortete der Flügel. «Ich habe mich nur mit dem Bergkönig unterhalten, morgen erzähle ich euch davon. Jetzt bin ich furchtbar müde.»
Dann rollte er in seine Ecke des Zimmers und schlief sofort ein.
Er hörte Musik. Seine Musik. Der Flügel spielte. Durchtrainierte, athletische Finger, die denen Bernhard Ogermanns ähnelten, schwebten vor ihm in der Luft und glitten behände über die schwarzen und weißen Tasten. Und mit jedem Ton, den sie formten, wurde das Bild seiner Umgebung um ihn herum klarer und deutlicher.
Der Flügel befand sich wieder in der großen Halle im Innern des Turmes, aber er spürte kein Erschrecken. Im Gegenteil. Der Saal war von
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