Der kleine Flügel: Eine phantastische Geschichte mit Musik (German Edition)
der Strichrichtung zurück, und ein kristallklarer Ton durchschnitt die Stille. Mit Erstaunen registrierte der Flügel, wie mit Erklingen des ersten Tons ein Lichtstrahl von der Guarneri in seine Richtung flog. In dem Moment hörte er einen zweiten Ton. Eine kleine Terz, dachte er noch, als etwas neben ihm in die Wand einschlug.
Der Putz bröckelte. Seine Gefährten und die Celesta wichen zur Seite.
Und jetzt begriff er. Die Guarneri schoss mit Musik auf ihn. Hier, an diesem magischen Ort, konnten sich Töne zu reiner, zerstörerischer Energie verdichten.
Es folgten zwei Intervalle in kurzem Abstand. Eine nacheinander abgefeuerte große und eine kleine Sekunde schossen auf ihn zu. Nur mit Mühe konnte der Flügel mit einem Schritt zur Seite ausweichen. Krachend schlugen die beiden Geschosse hinter ihm ein, und Teile der Wandverkleidung fielen polternd auf den Marmorfußboden. Und bevor der Flügel handeln konnte, durchzuckte ihn ein brennender Schmerz. Die Guarneri hatte eine Melodiephrase mit einer aufsteigenden Oktave abgeschlossen, die ihn in Form eines mächtigen Feuerpfeils getroffen hatte. «Oh mein Gott», hörte er Celesta rufen.
Seine Gefährten hatten Schutz hinter massiven Säulen gesucht und beobachteten das Geschehen aus sicherer Entfernung. Der Flügel sah hektisch an sich hinunter. Glücklicherweise hatte der Feuerpfeil nur die massive Messingrolle an seiner Unterseite getroffen und deren Feststellschraube abgesprengt.
«Ja, Flügel», rief die Guarneri. «Musik kann sehr weh tun. Und ich sage dir: Je virtuoser und entschlossener man spielt, desto mächtiger ist diese Waffe.»
Dann lachte sie und begann erneut zu spielen. Der Flügel wich sofort zur Seite. Die aus auf- und absteigenden Intervallen zusammengesetzte Melodie kam ihm irgendwie bekannt vor: der berühmte Csárdás von Monti. Der vielleicht berühmteste Violinklassiker; jetzt raste er als Waffe durch den Raum auf ihn zu.
«Der Csárdás!», entfuhr es dem Flügel.
«Du kennst dich aus», rief die Guarneri und lachte. Mit der Präzision eines Uhrwerks beherrschte sie Strichstelle, Strichgeschwindigkeit und Bogendruck, sodass die Töne und deren Intervalle, aus denen die Melodie zusammengesetzt war, wie Maschinengewehrsalven rings um den Flügel einschlugen, der hinter einer Marmorsäule in Deckung gegangen war.
Zwischenzeitlich hatte auch die Guarneri ihren Platz gewechselt. Der Flügel konnte von seiner Position aus seine Angreiferin nicht sehen, und so war es schwierig für ihn, die Richtung, aus der die Violine ihre Salven abfeuerte, eindeutig zu bestimmen. Aber er wusste: Er musste sich wehren.
Er nutzte eine kurze Feuerpause der Guarneri, um mit einem Dominant-Arpeggio über vier Oktaven zu antworten. Konnte auch er Musik zu energetischen Strahlen verdichten?
Er konnte! Eine Lichtgirlande schnellte aus dem Korpus des Flügels und tauchte die Halle in ein weiches, grünliches Licht. Sie drehte noch eine Runde, um dann direkt unter der Kuppel zu verglimmen.
«Aha!», schallte es von der anderen Seite «Du hast es begriffen! Wir werden jetzt sehen, wer besser ist.» Ohne Zögern setzte die Guarneri die Melodie des Csárdás fort und feuerte Feuersalven in die Richtung, in der sie ihren Gegner vermutete. Der Flügel hatte diese Melodie noch von keinem Instrument auch nur annähernd perfekt artikuliert gehört. Die Guarneri interpretierte den Csárdás wirklich meisterhaft, und die zerstörerische Kraft der Musik war ungeheuerlich. Staccatoartig schlugen die kleinen und großen Sekunden im Marmor ein und hinterließen beachtliche Einschusslöcher. Jetzt folgte in der Komposition die Stelle, an der die Melodie wiederholt wurde. Diesen Moment nutzte der Flügel, um in das von der Violine so virtuos gespielte Thema einzufallen. Reine musikalische Energie schoss aus ihm heraus. Die jetzt von beiden Seiten abgefeuerten gleichen Melodien trafen genau in der Mitte des Raumes aufeinander, explodierten beim Aufeinanderprallen an Ort und Stelle und hinterließen gleißende Feuerbälle. Der Flügel versuchte verzweifelt, dem Tempo und der Dynamik der Guarneri exakt zu folgen, damit sich die Energie der Noten im Zentrum des Raumes neutralisierte. Aber die zerstörerische Kraft der aufeinanderprallenden Töne verlagerte sich jetzt bedrohlich in Richtung des Flügels. Sosehr er sich auch mühte, der Violine Paroli zu bieten, die Guarneri konnte immer noch eins draufsetzen. Am Ende blieb dem Flügel nichts anderes übrig, als mit einer schnellen
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