Der kleine Freund: Roman (German Edition)
herein, schwerer und schneller, und hörten jäh auf.
Was ist, wenn mein Schuh rausguckt?, dachte Hely, und ein beinahe unbeherrschbares Grauen durchbrutzelte ihn.
Alles war still. Die Schritte zogen sich ein kleines Stück weit zurück. Gedämpfte Stimmen. Ihm war, als gehe einer zum Fenster, laufe dort unruhig auf und ab, komme dann zurück. Wie viele verschiedene Stimmen es waren, konnte er nicht erkennen, aber eine Stimme erhob sich deutlich über den Rest: ein verstümmelter Singsang wie bei dem Spiel, das er und Harriet manchmal im Schwimmbad spielten, wenn sie abwechselnd unter Wasser Sätze sprachen und herausfinden mussten, was der andere gesagt hatte. Gleichzeitig vernahm er ein leise Geräusch aus der Schlangenkiste – skritsch skritsch skritsch –, ein Rascheln, das so leise war, dass er es sich vielleicht nur einbildete. Er klappte die Augen auf. Durch den schmalen Streifen zwischen Sitz sack und miefigem Teppich starrte er seitwärts auf zwanzig Zentimeter Schlangenbauch, der gespenstisch am Drahtgitter der Kiste vor ihm ruhte. Wie die leberartige Spitze des Tentakels irgendeines Seeungeheuers pendelte das Tier blind hin und her wie ein Scheibenwischer... und kratzte sich, erkannte Hely mit entsetzter Faszination, skritsch... skritsch... skritsch...
Und aus war das Licht, ganz unerwartet. Schritte und Stimmen entfernten sich.
Skritsch... skritsch... skritsch... skritsch... skritsch...
Hely schaute verloren ins Dunkel, völlig starr, die Hände flach zwischen die Knie gepresst. Der Bauch der Schlange hinter dem Gitter war immer noch undeutlich zu sehen. Und wenn er jetzt die ganze Nacht hier bleiben musste? Hilflos wieselten und stolperten seine Gedanken durcheinander, derart wild, dass ihm ganz schlecht wurde. Präg dir ein, wo die Ausgänge sind, ermahnte er sich – so hatte er es in der Schule gelernt, für Brand- oder andere Notfälle, aber er hatte hier nicht besonders gut aufgepasst, und die Ausgänge, an die er sich erinnern konnte, waren absolut unbrauchbar: Die Wohnungstür war unerreichbar...
die Innentreppe auf der Seite der Mormonen mit einem Vorhängeschloss versperrt... das Toilettenfenster, ja, das war möglich, aber das Hereinkommen war schon schwierig genug gewesen, ganz zu schweigen von der Vorstellung, sich da wieder hinauszuquetschen, ohne dass man ihn hörte, hinaus in die Dunkelheit...
Zum ersten Mal dachte er jetzt an Harriet. Wo war sie wohl? Er versuchte, sich vorzustellen, was er an ihrer Stelle tun würde. Ob sie so vernünftig war, wegzulaufen und jemanden zu holen? Unter anderen Umständen hätte Hely sich von ihr lieber glühende Kohlen auf den Rücken streuen lassen, ehe sie seinen Dad hätte rufen dürfen, aber jetzt sah er – vom Sterben abgesehen – keine Alternative. Mit seinen schütteren Haaren und seinem etwas fülligen Bauch war Helys Vater weder groß noch imposant, er war sogar eher kleiner als der Durchschnitt, aber in seinen Jahren als Leiter der High School hatte er sich einen Blick angeeignet, der die Verkörperung der Autorität war, und die Art, wie er ein versteinertes Schweigen in die Länge ziehen konnte, ließ auch erwachsene Männer kleinlaut werden.
Harriet? Angespannt rief er sich das elfenbeinweiße Telefon im Schlafzimmer seiner Eltern vor Augen. Wenn Helys Dad wüsste, was passiert war, würde er furchtlos anmarschiert kommen, ihn bei der Schulter packen und hinausschleifen – hinaus zum Auto, ihm eine Tracht Prügel verpassen und auf der Heimfahrt einen Vortrag halten, der Helys Ohren zum Glühen bringen würde, während der Prediger zwischen seinen Schlangen kauerte und »jawohl Sir, danke Sir« murmelte, ohne zu wissen, was da über ihn gekommen war.
Der Nacken tat ihm weh. Er hörte nichts mehr, nicht mal die Schlange. Plötzlich fiel ihm ein, dass Harriet vielleicht tot war: erwürgt, erschossen, überfahren vom Pick-up des Predigers, der beim Einbiegen über sie hinweggerollt war – was wusste er?
Niemand weiß, wo ich bin. Seine Beine verkrampften sich. Ganz behutsam streckte er sie ein wenig. Niemand. Niemand. Niemand.
Ein Hagel von Nadelstichen prickelte durch seine Waden. Eine Weile blieb er ganz still und angespannt liegen und rechnete jeden Augenblick damit, dass der Prediger sich auf ihn stürzen würde. Als nichts geschah, drehte er sich schließlich um. Das Blut kribbelte in seinen verkrampften Gliedern. Er wackelte mit den Zehen und drehte den Kopf hin und her. Er wartete. Als er es schließlich nicht mehr
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