Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Titel: Der kleine Freund: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
Vom Netzwerk:
Piratenschatz in einer Höhle, grobe Seekisten, umbekümmert und großzügig bestreut mit Diamanten und Silber und Rubinen.
    Er schaute nach unten. In der Kiste neben seinem Turnschuh  – nur eine Handbreit entfernt – lag eine zusammengerollte Waldklapperschlange und zuckte mit dem Schwanz: tsch tsch tsch. Unwillkürlich machte er einen Satz rückwärts und sah durch den Gitterdeckel am Rande seines Gesichtsfeldes eine andere Schlange, die gefleckt, s-förmig, auf ihn zufloss. Als
sie mit der Schnauze die Kistenwand berührte, schnappte sie zurück, mit einem solchen Zischen und einer so kraftvollen Peitschenbewegung (einer unmöglichen Bewegung, wie ein rückwärts laufender Film: ein Strahl, der sich aus einer Milchpfütze erhob und hochfloss, zurück in den Krug), dass Hely noch einmal zurücksprang und gegen eine andere Kiste stieß, die ihm sogleich ein überschäumendes Zischen entgegenspie.
    Harriet, sah er, war dabei, eine senkrecht stehende Kiste von den andern weg zur verriegelten Tür zu schieben. Sie hielt inne und strich sich das Haar aus dem Gesicht. »Ich will die hier«, sagte sie. »Hilf mir.«
    Hely war überwältigt. Es war ihm nicht klar gewesen, aber bis zu diesem Augenblick hatte er nicht geglaubt, dass sie ihm die Wahrheit sagte. Die Aufregung durchströmte ihn wie eine eisige Luftblase, kribbelnd, tödlich, köstlich wie kaltes grünes Meerwasser, das durch ein Leck im Boden eines Bootes flutet.
    Mit zusammengepressten Lippen schob Harriet die Kiste ein paar Schritt weit über den freien Boden und kippte sie dann auf die Seite. »Wir tragen sie ...« Sie unterbrach sich und rieb sich die Hände. »Wir tragen sie draußen die Treppe runter.«
    »Wir können nicht mit dieser Kiste über die Straße gehen.«
    »Hilf mir einfach, okay?« Keuchend wuchtete sie die Kiste weiter.
    Hely machte sich auf den Weg zu ihr. Es war nicht angenehm, zwischen den Kisten hindurchzuwaten, denn hinter den Gittern – nicht mehr als Fliegendraht, durch den man leicht mit dem Fuß hindurchtreten konnte – ahnte er schattenhafte Bewegung: Ringe, die sich auflösten, zerschmolzen und sich neu formten, schwarze Diamanten, die in abscheulichen, lautlosen Runden dahinflossen, einer nach dem andern. Sein Kopf fühlte sich an, als sei er voller Luft. Das hier ist nicht wahr, sagte er sich, nicht wahr, nein, nur ein Traum, und tatsächlich sollten seine Träume ihn noch viele Jahre lang – weit bis ins Erwachsenenalter hinein – gnadenlos in diese übel riechende Dunkelheit zurückstürzen, hierher zwischen die zischenden Schatztruhen des Alptraums.
    Die Fremdartigkeit der Kobra – königlich aufrecht, gereizt
schwankend in der schaukelnden Kiste – nahm Hely überhaupt nicht wahr. Das Einzige, was zu ihm durchdrang, war die seltsame, unangenehme Verlagerung ihres Gewichts von einer Seite zur andern und die Notwendigkeit, mit der Hand nicht in die Nähe des Drahtgitters zu kommen. Verbissen zogen sie die Kiste zur Hintertür, und Harriet schob den Riegel auf und öffnete sie weit. Dann hoben sie die Kiste zusammen hoch und schleppten sie längsseits die Treppe hinunter (die Kobra verlor das Gleichgewicht, drosch und peitschte mit trockener, wütender Gewalt), und unten stellten sie sie auf den Boden.
    Es war inzwischen dunkel. Die Straßenlaternen brannten, und von der anderen Straßenseite leuchteten Verandalichter herüber. Ihnen war schwindlig, und sie hatten Angst, die Kiste auch nur anzuschauen, so hasserfüllt klangen die rasenden Stöße darin, als sie sie mit den Füßen unter das Haus schoben.
    Der Nachtwind war kalt. Harriets Arme prickelten von einer stachligen Gänsehaut. Oben, durch die Hausecke verdeckt, schlug die Fliegentür gegen das Treppengeländer und fiel dann wieder zu. »Warte«, sagte Hely. Er richtete sich aus seiner halben Hocke auf und rannte noch einmal die Treppe hinauf. Mit zitternden, kraftlosen Fingern fummelte er am Türknauf herum und tastete nach dem Schloss. Seine Hände waren klebrig vom Schweiß, und eine sonderbare, traumartige Leichtigkeit hatte ihn erfasst. Die dunkle, uferlose Welt umwogte ihn, als säße er hoch oben in der Takelage eines Alptraumpiratenschiffs, hin und her geworfen vom Nachtwind, der über die hohe See fegte ...
    Beeil dich, drängte er sich selbst, beeil dich, damit wir hier verschwinden können, aber seine Hände wollten nicht richtig gehorchen, sie rutschten und glitschten hilflos auf dem Türknauf herum, als gehörten sie ihm gar

Weitere Kostenlose Bücher