Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Titel: Der kleine Freund: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
Vom Netzwerk:
war – einstweilen wohlbehalten jedenfalls –, sackte er im Schatten der gegenüberliegenden Wand zusammen, zittrig und entkräftet vom Pochen seines Herzens. Die Ideen waren ihm ausgegangen. Wenn jetzt jemand hereinkäme und das Licht einschaltete, würden sie ihn sofort sehen, wehrlos vor der Spanplattenwand kauernd.
    Hatte er wirklich die Schlangen herausgelassen? Von da aus, wo er hockte, sah er zwei auf dem Boden im Flur liegen, und eine dritte schlängelte sich zielstrebig auf das Licht zu. Noch einen Augenblick zuvor hatte es ausgesehen wie ein guter Plan, aber jetzt bereute er es inbrünstig: Bitte, lieber Gott, bitte lass sie nicht hier rüberkriechen... Die Schlangen hatten Muster auf dem Rücken, wie Kupferköpfe, nur schärfer ausgeprägt. An der kühnsten, die sich dreist auf das Nachbarzimmer zubewegte, erkannte er jetzt die Hornringe einer fünf Zentimeter langen Rassel an der Schwanzspitze.
    Aber wirklich nervös machten ihn die, die er nicht sehen konnte. In der Kiste waren mindestens fünf oder sechs Schlangen gewesen. Wo waren sie jetzt?
    Von den vorderen Fenstern ging es senkrecht zur Straße hinunter. Seine einzige Hoffnung war das Toilettenfenster. Wenn er erst auf dem Dach wäre, könnte er von der Kante baumeln und sich dann das restliche Stück fallen lassen. Er war schon von Baumästen gesprungen, die fast so hoch gewesen waren.
    Aber zu seiner Bestürzung war die Toilettentür nicht da, wo er sie vermutet hatte. Er schob sich an der Wand entlang – für seinen Geschmack viel zu weit in den dunklen Bereich, wo er die Schlangen herausgelassen hatte –, aber was er für die Tür gehalten hatte, war überhaupt keine Tür, sondern eine Spanplatte, die an der Wand lehnte.
    Hely war perplex. Die Toilettentür war links gewesen, da war er sicher. Er überlegte noch, ob er sich weiterschieben oder zurückziehen sollte, als die Erkenntnis sein Herz wie ein Stich durchzuckte: Die Tür war auf der linken Seite im anderen Zimmer.
    Er war wie vom Donner gerührt. Einen Augenblick lang stürzte das Zimmer unter ihm ins Leere (endlose Tiefen, lautlose Schächte, riesig geweitete Pupillen), und als es wieder heraufkam, brauchte er einen Moment, um herauszufinden, wo er war. Er lehnte den Kopf an die Wand und ließ ihn hin und her rollen. Wie hatte er so dumm sein können? Er hatte immer Schwierigkeiten mit Richtungen und verwechselte links und rechts. Buchstaben und Zahlen tauschten die Plätze, wenn er den Blick von der Seite hob, und grinsten ihn dann von anderswo an, und manchmal setzte er sich sogar in der Schule auf den falschen Stuhl, ohne es zu merken. Flüchtigkeit! Flüchtigkeit!, schrie die rote Tinte auf seinen Aufsätzen, seinen Mathearbeiten, seinen voll gekritzelten Arbeitsblättern.

    Als die Scheinwerfer in die Einfahrt schwenkten, war Harriet völlig überrascht. Sie ließ sich zu Boden fallen und rollte sich unter das Haus – und bums, rumpelte sie gegen die Kiste der Kobra, die daraufhin erbost zustieß. Der Kies knirschte, und ehe sie noch Luft holen konnte, donnerten mit einem jähen Windstoß die Reifen nur zwei Schritt vor ihrem Gesicht vorüber, und bläuliches Licht flimmerte durch das struppige Gras.
    Harriet lag mit dem Gesicht nach unten in pulvrigem Staub. Der Übelkeit erregende Geruch von etwas Totem drang ihr in die Nase. Alle Häuser in Alexandria hatten Kriechkeller,
um vor Hochwasser sicher zu sein, und der hier war höchstens einen halben Meter hoch und kaum weniger Klaustrophobie erweckend als ein Grab.
    Die Kobra, der es nicht gefallen hatte, die Treppe hinuntergeschaukelt und auf die Seite gekippt zu werden, schlug gegen die Kistenwand – Harriet spürte die entsetzlichen, trockenen Peitschenhiebe durch das Holz. Aber schlimmer als die Schlange oder der Gestank von irgendeiner toten Ratte war der Staub, der unbarmherzig in der Nase kitzelte. Sie drehte den Kopf zur Seite. Der rote Schein der Schlusslichter schwenkte schräg unter dem Haus hindurch und glühte unversehens auf geringelten Regenwurmhäufchen, Ameisenhügeln, einer schmutzige Glasscherbe.
    Dann war alles wieder schwarz. Die Wagentür wurde zugeschlagen. » ... und deswegen fing der Wagen an zu brennen«, sagte eine grollende Stimme, die nicht dem Prediger gehörte.
    Schritte kamen auf sie zu. Harriet kämpfte verzweifelt gegen das Niesen an; sie hielt den Atem an, presste sich die Hand vor den Mund und hielt sich die Nase zu. Über ihrem Kopf polterten die Schritte die Treppe hinauf. Ein

Weitere Kostenlose Bücher