Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Titel: Der kleine Freund: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
Vom Netzwerk:
Stachel berührte tastend ihren Fußknöchel. Er fand keinen Widerstand, setzte fester an und bohrte sich hinein. Harriet erzitterte von Kopf bis Fuß unter dem Drang, mit der Hand auf die Stelle zu klatschen.
    Noch ein Stich, diesmal an der Wade. Feuerameisen. Toll. »Na, als er wieder nach Hause kam«, sagte die grollende Stimme, leiser jetzt und aus größerer Entfernung, »konnten sie alle sehen, wer die Wahrheit aus ihm rausgeholt hat ...«
    Dann verstummte die Stimme. Oben war alles still, aber sie hatte nicht gehört, wie die Tür aufgegangen war, und Harriet spürte, dass sie noch nicht hineingegangen waren, sondern wachsam auf dem Treppenabsatz standen. Steif blieb sie liegen und strengte sich mit jeder Faser an, irgendetwas zu hören.
    Minuten vergingen. Die Feuerameisen stachen sie in Arme und Beine, energisch und in wachsender Zahl. In der erstickenden Stille glaubte sie Schritte zu hören, Stimmen – aber
wenn sie versuchte, Genaueres zu unterscheiden, verschwammen die Geräusche und lösten sich in Nichts auf.
    Starr vor Angst lag sie auf der Seite und schaute hinaus in die pechschwarze Dunkelheit der Einfahrt. Wie lange würde sie hier liegen bleiben müssen? Wenn sie herkämen, würde ihr nichts anderes übrig bleiben, als weiter unter das Haus zu kriechen, und da ging es nicht bloß um Feuerameisen: Wespen bauten ihre Nester unter Häusern, aber auch Stinktiere und Spinnen und alle möglichen Arten von Nagetieren und Reptilien. Kranke Katzen und Opossums schleppten sich hier herein, um zu krepieren, und ein Schwarzer namens Sam Bebus, der Heizungen reparierte, war kürzlich auf die Seite eins der Zeitung gekommen, weil er unter einer Greek-Revival-Villa in der Main Street, nur ein paar Blocks von hier, einen menschlichen Schädel gefunden hatte
    Plötzlich kam der Mond hinter einer Wolke hervor und versilberte das spärliche Gras, das um das Haus herum wuchs. Harriet ignorierte die Feuerameisen; sie hob die Wange aus dem Staub und lauschte. Hohe Halme von Rispenhirse, die Ränder weiß im Mondlicht, bebten in Augenhöhe, wehten dann einen Moment lang flach über dem Boden und federten wieder hoch, zerzaust und zittrig. Sie wartete. Endlich, nach langem, atemlosem Schweigen, robbte sie auf den Ellenbogen voran und schob den Kopf unter dem Haus hervor.
    »Hely?«, flüsterte sie. Im Garten war es totenstill. Unkrautpflanzen, die aussahen wie kleine grüne Weizenhalme, wuchsen aus dem funkelnden Kies der Einfahrt. Am Ende der Einfahrt ragte der Pick-up riesenhaft und unverhältnismäßig in die Höhe, stumm und dunkel, das Heck ihr zugewandt.
    Harriet pfiff, dann wartete sie. Eine Ewigkeit schien vergangen zu sein, als sie schließlich ganz hervorkroch und aufstand. Etwas, das sich anfühlte wie ein zerquetschter Käfer, hatte sich in ihre Wange gebohrt. Mit sandigen Händen wischte sie es ab, streifte sich die Ameisen von Armen und Beinen. Feine braune Wolkenfetzen wehten wie Benzindunst über den Mond. Als sie vorübergezogen waren, lag der Garten in einem klaren, aschgrauen Licht.
    Eilig zog Harriet sich in den Schatten am Haus zurück. In dem baumlosen Garten war es auf einmal taghell. Jetzt erst wurde ihr bewusst, dass sie gar nicht gehört hatte, wie Hely die Treppe heruntergekommen war.
    Sie spähte um die Ecke. Der Nachbargarten war leer, Laubschatten flirrten auf dem Gras, aber keine Menschenseele war zu sehen. Mit wachsendem Unbehagen schob sie sich an der Hauswand entlang. Durch einen Maschendrahtzaun fiel ihr Blick in die glasige Stille des übernächsten Gartens, wo ein Kinderplantschbecken einsam und verlassen im mondbeschienenen Gras stand.
    Im Schatten, den Rücken an die Wand geschmiegt, umrundete Harriet das ganze Haus, aber von Hely war nirgends eine Spur. Höchstwahrscheinlich war er nach Hause gerannt und hatte sie im Stich gelassen. Zögernd trat sie hinaus auf den Rasen und reckte den Hals, um zum oberen Stockwerk hinaufzuschauen. Der Treppenabsatz war leer; das Badezimmerfenster  – immer noch halb offen – war dunkel. In der Wohnung brannte Licht, und sie hörte Bewegungen, Stimmen, aber es war alles zu undeutlich.
    Harriet nahm ihren ganzen Mut zusammen und rannte hinaus auf die hell erleuchtete Straße, aber als sie zu dem Busch auf dem Mittelstreifen kam, wo sie ihre Räder zurückgelassen hatten, setzte ihr Herz einmal aus und geriet ins Schleudern. Sie blieb wie angewurzelt stehen und konnte nicht glauben, was sie sah: Unter den weiß blühenden Zweigen lagen beide

Weitere Kostenlose Bücher