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Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Titel: Der kleine Freund: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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sie hoch. Als sie aufstand, nahm sie einen herben, fischigen Geruch wahr – nicht nach Schimmel, obwohl auch Schimmel dabei war, aber es roch scharf und ausgeprägt und ganz und gar abscheulich. Harriet kämpfte den ekligen Geschmack in ihrer Kehle nieder und richtete ihre aufsteigende Panik gegen die Tür (eine Akkordeontür aus schlabbrigem, mit einer Holzmaserung bedrucktem Vinyl), die in ihren Schienen festklemmte.
    Die Tür schnappte auf, und sie fielen übereinander hindurch in ein größeres Zimmer, in dem es ebenso stickig, aber dunkler war. Die gegenüberliegende Wand wölbte sich bauchig vor; sie war von einem Brandschaden rauchig geschwärzt und von Feuchtigkeit aufgequollen. Hely, aufgeregt und achtlos
wie ein Terrier, der Witterung aufgenommen hat, wurde plötzlich von einer Angst gepackt, die so scharf war, dass sie mit metallischem Geschmack auf seiner Zunge vibrierte. Nicht zuletzt Robins und seines Schicksals wegen hatten seine Eltern ihm sein Leben lang eingeschärft, dass nicht alle Erwachsenen gut seien: Manche – nicht viele, aber einige – raubten Eltern ihre Kinder, um sie zu quälen und sogar zu ermorden. Nie zuvor war ihm so machtvoll bewusst geworden, dass dies die Wahrheit war, und es traf ihn wie ein Schlag vor die Brust. Der Gestank und die scheußlich geschwollene Wand machten ihn seekrank, und all die Horrorstorys, die seine Eltern ihm erzählt hatten (Kinder, gefesselt und geknebelt in verlassenen Häusern, an einem Strick aufgehängt oder in einen Wandschrank gesperrt, wo sie verhungerten), erwachten auf einmal zum Leben, richteten ihre durchbohrenden gelben Augen auf ihn und grinsten mit Haifischzähnen: schnapp schnapp.
    Niemand wusste, wo sie waren. Niemand – kein Nachbar, kein Passant – hatte gesehen, wie sie hereinkletterten; niemand würde je wissen, was aus ihnen geworden war, wenn sie nicht mehr nach Hause kämen. Er lief Harriet nach, die zuversichtlich ins nächste Zimmer ging, stolperte über ein Elektrokabel und hätte beinahe laut geschrien.
    »Harriet?« Seine Stimme klang fremd. Er blieb im Dunkeln stehen und wartete auf eine Antwort, und er starrte auf das einzige sichtbare Licht: drei wie aus Feuer gezeichnete Rechtecke, die Umrisse der drei mit Alufolie verklebten Fenster, die gespenstisch im Finstern schwebten, als jäh der Boden unter ihm nachgab. Vielleicht war es eine Falle. Woher wussten sie eigentlich, dass niemand zu Hause war?
    »Harriet!«, rief er. Plötzlich musste er so dringend pinkeln wie noch nie im Leben. Er fummelte an seinem Reißverschluss, ohne zu wissen, was er tat, wandte sich von der Tür ab und ließ es strömen, mitten auf den Teppich: schnell, schnell, schnell, und ohne an Harriet zu denken. In seiner Qual fing er an zu hopsen, denn indem seine Eltern ihn so eindringlich vor diesen Irren gewarnt hatten, hatten sie ihm, ohne es zu wissen, ein paar seltsame Vorstellungen eingetrichtert, und die
schlimmste darunter war der panische Glaube, dass die Entführer den gekidnappten Kindern nicht erlaubten, die Toilette zu benutzen, sondern sie zwangen, sich zu besudeln, wo immer sie sein mochten: gefesselt auf einer dreckigen Matratze, eingesperrt in einem Kofferraum, begraben in einem Sarg mit einem Rohr zum Atmen...
    So!, dachte er, halb von Sinnen vor Erleichterung. Selbst wenn die Rednecks ihn jetzt folterten (mit Klappmessern, Schrotflinten, egal), würden sie nicht die Genugtuung haben, zu sehen, wie er sich in die Hose machte. Dann hörte er etwas hinter sich, und sein Herz geriet ins Schleudern wie ein Auto auf Glatteis.
    Aber es war nur Harriet. Ihre Augen waren groß und tintenschwarz, und neben dem Türrahmen sah sie sehr klein aus. Er war so froh, sie zu sehen, dass er nicht einmal daran dachte, sich zu fragen, ob sie ihn wohl beim Pinkeln erwischt hatte.
    »Sieh dir das an«, sagte sie ausdruckslos.
    Angesichts ihrer Gelassenheit verflog seine Angst. Er folgte ihr nach nebenan. Kaum hatte er das Zimmer betreten, da schlug ihm der faulige Moschusgestank – wieso hatte er ihn bloß nicht sofort erkannt? – so heftig entgegen, dass er ihn schmecken konnte...
    »Heiliger Strohsack«, sagte er und hielt sich die Hand vor die Nase.
    »Ich hab’s doch gesagt«, antwortete sie hochnäsig.
    Die Kisten – viele Kisten, fast genug, um den ganzen Boden zu bedecken – blinkten im Halbdunkel: Perlmuttknöpfe, Spiegelscherben, Nagelköpfe, Straßsteine und zersplittertes Glas, das alles funkelte diskret im trüben Licht wie ein

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