Der kleine Freund: Roman (German Edition)
Dinosauriern entfacht worden und hatte dann eine Wandlung erfahren. Was Harriet interessierte – das wurde klar, sobald sie alt genug war, um es zu artikulieren –, waren nicht die Dinosaurier selbst, die langwimprigen Brontosaurier aus den Cartoons der Samstagszeitung, die sich reiten ließen oder brav die Hälse senkten, damit die Kinder darauf herunterrutschen konnten, und nicht einmal der kreischende Tyrannosaurus und der Pterodaktylus der Alpträume. Was sie interessierte, war der Umstand, dass sie nicht mehr existierten.
»Aber woher wissen wir«, hatte sie Edie gefragt, die das Wort Saurier nicht mehr hören konnte, »wie sie wirklich ausgesehen haben?«
»Weil man ihre Knochen gefunden hat.«
»Aber wenn ich deine Knochen finde, Edie, dann weiß ich doch noch nicht, wie du ausgesehen hast.«
Edie war beim Pfirsichschälen und gab keine Antwort.
»Schau hier, Edie. Schau. Hier steht, sie haben nur einen Wadenknochen gefunden.« Sie kletterte auf einen Schemel und hielt hoffnungsvoll mit einer Hand das Buch vor sich ausgestreckt. »Und hier ist ein Bild vom ganzen Dinosaurier.«
»Kennst du das Lied nicht, Harriet?«, unterbrach Libby und beugte sich von der Küchentheke herüber, wo sie die Pfirsiche entsteinte. Mit ihrer zittrigen Stimme fing sie an zu singen: »Der Knieknochen hängt am Wadenknochen... der Wadenknochen hängt am ...«
»Aber woher wissen sie, wie er ausgesehen hat? Woher wissen sie, dass er grün war? Auf dem Bild haben sie ihn grün gemacht. Guck. Guck, Edie.«
»Ich gucke ja«, sagte Edie missmutig, obwohl sie es nicht tat.
»Nein, du guckst nicht!«
»Was ich gesehen habe, reicht mir.«
Als Harriet ein bisschen älter wurde, neun oder zehn, verlegte sich ihre Fixierung auf die Archäologie. Hier fand sie eine bereitwillige, wenn auch konfuse Diskussionspartnerin in ihrer Tante Tat. Tat war dreißig Jahre lang Lateinlehrerin an der örtlichen High School gewesen, und im Ruhestand hatte sie ein Interesse an diversen Rätseln der Antike entwickelt, von denen viele, wie sie glaubte, auf Atlantis zurückzuführen seien. Die Atlantier, behauptete sie, hätten die Pyramiden und die Monolithfiguren auf der Osterinsel errichtet; atlantische Weisheit sei die Erklärung für die trepanierten Schädel, die man in den Anden, und die modernen elektrischen Batterien, die man in den Gräbern der Pharaonen gefunden habe. Ihre Regale waren voll gestopft mit pseudowissenschaftlichen, populären Büchern aus den neunziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts, die sie von ihrem gebildeten, aber leichtgläubigen Vater geerbt hatte, einem angesehenen Richter, der in seinen letzten Lebensjahren unentwegt versucht hatte, im Pyjama aus einem verschlossenen Schlafzimmer zu entweichen. Seine Bibliothek, die er seiner zweitjüngsten Tochter Theodora – sie hatte von ihm den Spitznamen Tattycorum, oder kurz Tat, erhalten – hinterlassen hatte, enthielt Werke wie Die antediluvische Kontroverse, Andere Welten und Der Kontinent Mu: Fiktion oder Wirklichkeit?
Tats Schwestern hatten nichts übrig für diese Forschungsrichtung: Adelaide und Libby hielten sie für unchristlich, Edie fand es einfach nur albern. »Aber wenn es so etwas wie Atlanta
gegeben hat«, sagte Libby und runzelte die unschuldige Stirn, »warum steht dann nichts davon in der Bibel?«
»Weil es da noch nicht erbaut war«, sagte Edie ziemlich grausam. »Atlanta ist die Hauptstadt von Georgia. Sherman hat es im Bürgerkrieg in Schutt und Asche gelegt.«
»Oh, Edith, sei nicht so gehässig...«
»Die Atlantier«, sagte Tat, »waren die Vorfahren der alten Ägypter.«
»Na, aber da hast du’s. Die alten Ägypter waren keine Christen«, sagte Adelaide. »Sie haben Katzen und Hunde angebetet und so was.«
»Sie konnten keine Christen sein, Adelaide. Christus war noch nicht geboren.«
»Vielleicht nicht, aber Moses und all die andern hielten sich doch wenigstens an die Zehn Gebote. Sie sind nicht herumgelaufen und haben Katzen und Hunde angebetet.«
»Die Atlantier«, sagte Tat hochfahrend über das Gelächter ihrer Schwester hinweg, »die Atlantier wussten viele Dinge, die moderne Wissenschaftler heute noch gern in die Finger bekämen. Daddy wusste über Atlantis Bescheid, und er war ein guter Christ und besaß mehr Bildung als wir alle zusammen in diesem Zimmer.«
»Daddy«, brummte Edie, »Daddy hat mich immer mitten in der Nacht aus dem Bett geholt und gesagt, Kaiser Wilhelm kommt, und ich soll das Silber im Brunnen
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