Der kleine Freund: Roman (German Edition)
Schaukel. Mit unverhohlenem Interesse verfolgte er die Szene.
Harriet wusste nicht, was sie tun sollte. Sie hatte das Gefühl, sie sollte zu Odean gehen – Libby hätte es so gewollt –, aber Odean wirkte nicht sehr freundlich oder einladend, im Gegenteil, in ihrer Haltung war etwas schrecklich Abweisendes, das Harriet Angst einjagte. Plötzlich und unvermittelt kam auf der Veranda Unruhe auf, und Allison stürzte zur Tür heraus und in Odeans Arme, sodass die alte Lady – die Augen vor Schreck über den jähen Überfall weit aufgerissen – sich am Verandageländer festhalten musste, um nicht rückwärts hinunterzufallen.
Allison schluchzte so heftig, dass sogar Harriet erschrak. Odean starrte über Allisons Schulter hinweg, ohne die Umarmung zu erwidern, ja, sie schien ihr nicht einmal willkommen zu sein.
Edie kam heraus auf die Treppe. »Allison, geh wieder ins Haus«, befahl sie, und sie packte Allison bei den Schultern und drehte sie um. »Auf der Stelle!«
Mit schrillem Aufschrei riss Allison sich los und rannte quer durch den Garten, vorbei an der Hollywoodschaukel, vorbei an Hely und Harriet in Edies Werkzeugschuppen. Es gab ein blechernes Krachen wie von einer Harke, die umfiel, als die Tür zuknallte.
Hely drehte glotzend den Kopf hin und her und sagte nüchtern: »Mann, deine Schwester hat sie nicht alle.«
Von der Veranda hallte Edies Stimme klar und weithin hörbar herüber, ein bisschen wie eine öffentliche Ansprache: zwar förmlich, aber durchbebt von Emotionen und so etwas wie Not. »Odean! Danke, dass du gekommen bist! Willst du nicht einen Augenblick hereinkommen?«
»Nein, ich will niemanden stören.«
»Sei nicht albern! Wir sind mächtig froh, dich zu sehen!«
Hely trat Harriet gegen den Fuß. »Hey«, sagte er und deutete mit dem Kopf zum Werkzeugschuppen. »Was ist los mit ihr?«
»Papperlapapp!«, sagte Edie tadelnd zu Odean, die weiterhin reglos dastand. »Genug davon! Du kommst sofort herein!«
Harriet konnte nicht sprechen. Aus dem wackligen Werkzeugschuppen kam ein einzelnes, gespenstisch trockenes Schluchzen wie von einem Tier, das erwürgt wurde. Harriets Gesicht verzerrte sich, aber nicht vor Abscheu oder Verlegenheit, sondern in einer fremdartigen, beängstigenden Gefühlsregung, die Hely zurückweichen ließ, als habe Harriet eine ansteckende Krankheit.
»Uh«, sagte er grausam und schaute über ihren Kopf hinweg – Wolken, ein Flugzeug, das seine Bahn über den Himmel zog –, »ich glaube, ich muss jetzt abhauen.«
Er wartete darauf, dass sie etwas sagte, und als sie es nicht tat, schlenderte er davon, nicht in seinem gewohnten, wieseligen Gang, sondern befangen die Arme hin- und herschlenkernd.
Das Tor fiel zu. Harriet starrte wütend zu Boden. Die Stimmen auf der Veranda waren schärfer und lauter geworden, und mit dumpfem Schmerz begriff Harriet, wovon die Rede war: von Libbys Testament. »Wo ist es?«, fragte Odean eben.
»Keine Sorge, das alles wird beizeiten erledigt werden.« Edie nahm Odean beim Arm, als wolle sie sie ins Haus führen.
»Das Testament liegt in ihrem Bankfach. Montagmorgen werde ich mit dem Anwalt hingehen ...
»Ich trau keinem Anwalt«, sagte Odean erbost. »Miss Lib hat mir was versprochen. Sie hat gesagt, Odean, hat sie gesagt, wenn mir was passiert, guck da in die Zedernholztruhe. Da ist’n Umschlag drin für dich. Geh einfach rein, und guck. Brauchst keinen zu fragen.«
»Odean, wir haben nichts von ihren Sachen angerührt. Am Montag...«
»Der Herrgott weiß, was passiert ist«, sagte Odean hochfahrend. »Der Herr weiß es, und ich weiß es. Jawohl, Ma’am, ich weiß auf jeden Fall, was Miss Libby zu mir gesagt hat.«
»Du kennst doch Mr. Billy Wentworth, oder?« Edies Stimme klang scherzhaft, als rede sie mit einem Kind, aber mit einer Heiserkeit, die Furcht erregend war. »Sag nicht, dass du Mr. Billy nicht vertraust, Odean! Der seine Praxis zusammen mit seinem Schwiegersohn hat, unten am Square?«
»Ich will bloß, was mir zusteht.«
Die Schaukel war verrostet. Moos quoll samtig aus den Ritzen der rissigen Ziegel im Boden. Mit verzweifelt zusammengebissenen Zähnen richtete Harriet ihre ganze Aufmerksamkeit auf eine ramponierte Schneckenmuschel, die am Fuße einer Gartenvase lag.
»Odean, das bestreite ich doch nicht«, sagte Edie. »Du bekommst, was dir rechtlich zusteht. Sobald...«
»Von rechtlich verstehe ich nichts. Ich weiß nur, was richtig ist.«
Die Muschel war kalkig vom Alter und so verwittert, dass
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