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Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Titel: Der kleine Freund: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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Der Schatten der leeren Wäscheleine war ein schroffer Strich im trockenen Gras. Sie schlich sich die Treppe hinunter in den düsteren Hausflur, denn jetzt, da Ida nicht mehr da war, öffnete niemand morgens die Jalousien (oder kochte Kaffee oder rief »Guten Morgen, Baby!« oder tat sonst eins der tröstlichen kleinen Dinge, die Ida immer getan hatte), und so blieb das Haus den größten Teil des Tages über in ein gefiltertes Unterwasserzwielicht getaucht.
    Unter dieser öden Stille – einer schrecklichen Stille, als sei die Welt zu Ende gegangen und als seien die meisten Menschen tot – lag das schmerzhafte Bewusstsein, dass nur ein paar Straßen weiter Libbys Haus stand, verrammelt und leer. Der Rasen ungemäht, die Blumenbeete braun und voller Unkraut, und drinnen die Spiegel leere Tümpel, die nichts abbildeten, und Sonnenlicht und Mondschein glitten gleichgültig durch die Räume. Wie gut kannte sie Libbys Haus zu allen Stunden, in jeder Stimmung und bei jedem Wetter – die winterliche Stumpfheit, wenn es im Flur halb dunkel war und die Gasheizung mit kleiner Flamme brannte, die stürmischen Tage und Nächte (wenn Regen an violetten Fensterscheiben hinunterströmte und Schatten an der Wand gegenüber) und die lodernden Herbstnachmittage, wenn Harriet nach der Schule müde und unglücklich in Libbys Küche saß, sich von Libbys Geplauder neuen Mut geben ließ und sich in der Wärme ihrer freundlichen Fragen sonnte. All die Bücher, die Libby ihr laut vorgelesen hatte, jeden Tag ein Kapitel nach der Schule: Oliver Twist, Die Schatzinsel, Ivanhoe . Manchmal war das Oktoberlicht, das an diesen Nachmittagen plötzlich in den Westfenstern des Hauses aufloderte, klinisch und erschreckend in seiner strahlenden Helligkeit, und seine gleißende Kälte war wie die Verheißung von etwas Unerträglichem, wie der unmenschliche
Glanz alter Erinnerungen auf dem Sterbebett: lauter Träume und gespenstische Abschiede. Aber immer – und mochte das Licht noch so still und trostlos sein (das bleierne Ticken der Uhr auf dem Kaminsims, das Buch aus der Bibliothek mit dem Gesicht nach unten auf dem Sofa) – immer leuchtete Libby selbst blass und hell, wenn sie durch die düsteren Zimmer ging: wie eine Pfingstrose mit ihrem weißen, zerzausten Haar. Manchmal sang sie vor sich hin, und ihre dünne Stimme klang süß und zittrig durch die hohen Schatten der gefliesten Küche über das fette Summen des Kühlschranks hin:
    Eule und Kätzchen, die fuhren zur See
im erbsengrünen Bötchen
beladen mit Groschen und Gummigaloschen
und Marmeladenbrötchen ...
    Da saß sie und stickte, und ihre winzige silberne Schere hing an einem rosa Band um ihren Hals. Sie löste das Kreuzworträtsel, las eine Biographie der Madame de Pompadour, sprach mit ihrer kleinen Katze... tip tip tip , Harriet konnte ihre Schritte hören, in diesem Augenblick, das besondere Geräusch ihrer Schuhe, Größe 34, tip tip tip den langen Flur hinunter, um ans Telefon zu gehen. Libby! Wie sie sich immer gefreut hatte, wenn Harriet anrief – sogar spätabends –, als gäbe es niemanden auf der Welt, dessen Stimme sie so gern hörte! »Oh! Mein Schatz !«, rief sie dann. »Wie lieb von dir, dass du dein armes altes Tantchen anrufst...« Und die Fröhlichkeit und Wärme in ihrer Stimme durchrieselte Harriet so sehr, dass sie (selbst wenn sie allein am Wandtelefon in der dunklen Küche stand) die Augen schloss und den Kopf senkte, warm durchglüht von Kopf bis Fuß, wie eine läutende Glocke. War irgendjemand anders so glücklich, von Harriet zu hören? Nein: niemand. Und jetzt konnte sie diese Nummer wählen, konnte sie wählen, so oft sie wollte, unaufhörlich bis ans Ende der Zeit, und nie mehr würde sie Libby am anderen Ende rufen hören: Mein Liebling! Mein Schatz ! Nein, das Haus war jetzt leer und still, auch wenn
der Duft von Zedernholz und Vetiverwurzel noch in den geschlossenen Räumen hing. Bald würden die Möbel fort sein, aber für einen Moment war alles noch so, wie es gewesen war, als Libby ihre Reise begonnen hatte: die Betten gemacht, die gespülten Teetassen auf dem Abtropfgitter gestapelt. Die Tage wanderten durch die Räume, einer nach dem andern, ganz unbemerkt. Wenn die Sonne aufging, erwachte der Briefbeschwerer aus sprudelndem Glas zu leuchtendem Leben, zu seinem kleinen blitzenden Leben, das drei Stunden währte, um dann wieder in Dunkelheit und Schlummer zu versinken, wenn das Dreieck aus Sonnenlicht gegen Mittag darüber

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