Der kleine Freund: Roman (German Edition)
sie aussah wie bröckeliger Gips. Die Spitze war abgebrochen, und die innere Kante versank in einem zarten, silbrig rosafarbenen Perlglanz, der an Edies alte Maiden’s-Blush-Rosen erinnerte. Vor Harriets Geburt hatte die ganze Familie jedes Jahr Urlaub am Golf gemacht, aber nach Robins Tod waren sie nie wieder dort gewesen. Gläser mit winzigen grauen Klappmuscheln, die auf diesen Reisen gesammelt worden waren, standen hoch oben auf den Borden in den Schränken der Tanten, verstaubt und traurig. »Wenn sie eine Weile nicht im Wasser
waren, verlieren sie ihre Zauberkraft«, hatte Libby gesagt, und dann hatte sie Wasser in das Waschbecken im Bad laufen lassen, die Muscheln hineingeschüttet und eine Fußbank davor gestellt, damit Harriet hinaufsteigen konnte (winzig war sie damals gewesen, ungefähr drei Jahre alt, und wie riesig und weiß war ihr das Waschbecken vorgekommen!). Und völlig überrascht hatte sie zugesehen, wie das gleichförmige Grau plötzlich hell und glatt und magisch wurde und zu tausend klingelnden Farben zerbrach: purpurn hier, muschelschwarz durchtränkt dort, zu Rippen aufgefächert, zu zarten polychromen Spiralen verwirbelt, silbern, marmorblau, korallenrot, perlmuttgrün und rosa! Wie kalt und klar war das Wasser gewesen, und ihre eigenen Hände bis zum Handgelenk – wie eisig gerötet und weich! »Riech nur«, hatte Libby gesagt und tief durchgeatmet. »So riecht das Meer!« Und Harriet hatte das Gesicht dicht über das Wasser gebeugt und den herben Duft eines Meeres geschnuppert, das sie nie gesehen hatte, den Salzgeruch, von dem Jim Hawkins in der Schatzinsel erzählte. Das Rauschen der Brandung, die Schreie fremder Vögel und die weißen Segel der Hispaniola , die sich wie die weißen Seiten eines Buches vor einem wolkenlosen, heißen Himmel blähten.
Der Tod – sagten alle – sei das Gestade des Glücks. Auf den alten Fotos von der See war ihre Familie noch einmal jung, und Robin stand bei ihnen: Boote und weiße Taschentücher, Möwen, die sich ins Licht erhoben. Ein Traum, in dem alle gerettet wurden.
Aber es war ein Traum vom vergangenen Leben, nicht von dem Leben, das kommen würde. Und im gegenwärtigen Leben gab es nichts als rostige Magnolienblätter, flechtenüberkrustete Blumentöpfe, das gleichmäßige Summen der Bienen am heißen Nachmittag, das gesichtslose Gemurmel der Trauergäste. Lehm und schleimiges Gras unter dem rissigen Gartenziegel, den sie mit dem Fuß beiseite gestoßen hatte. Harriet betrachtete das hässliche Stück Erde mit grol3erAufmerksamkeit, als wäre es das Einzige auf der Welt, das wahr war – und in gewisser Weise stimmte das ja auch.
KAPITEL 7.
Der Turm.
Die Zeit war zerbrochen, und Harriet hatte keine Anhaltspunkte mehr, sie zu messen. Früher war Ida der Planet gewesen, dessen Runden die Stunden markiert hatten, und ihr leuchtender alter, zuverlässiger Lauf (Waschen am Montag, Flicken am Dienstag, Sandwiches im Sommer und Suppe im Winter) beherrschte Harriets Leben in jeder Hinsicht: Wochen, die sich in regelmäßiger Folge umeinander drehten, jeder Tag eine Serie von aufeinander folgenden Bildern. Donnerstagmorgens stellte Ida vor der Spüle das Bügelbrett auf und bügelte, und Dampf keuchte unter dem monolithischen Eisen hervor. Donnerstagnachmittags, im Winter wie im Sommer, schüttelte sie die Teppiche aus, klopfte sie und hängte sie zum Lüften nach draußen, der rote türkische Läufer, der über dem Verandageländer hing, als Fahne, die eindeutig für Donnerstag stand. Endlose Sommer-Donnerstage, kalte Donnerstage im Oktober, ferne, dunkle Donnerstage aus der Erstklässler-Vergangenheit, da Harriet unter heißen Decken dämmerte, fiebernd von einer Mandelentzündung. Das Klatschen des Teppichklopfers und das Zischen und Gurgeln des Dampfbügeleisens waren lebendige Laute der Gegenwart, aber auch Glieder in einer Kette, die sich durch Harriets Leben zurückschlängelte und in der abstrakten Finsternis des Säuglingsalters verschwand. Tage endeten um fünf, wenn Ida auf der hinteren Veranda die Schürze wechselte; Tage begannen mit dem Knarren der Haustür und Idas Schritten im Flur. Friedvoll wehte das Brummen des Staubsaugers aus fernen Zimmern, und bald oben, bald unten erklang das einschläfernde Quietschen von Idas Gummisohlen und manchmal das hohe, trockene Gackern ihres Hexenlachens. So glitten die Tage vorüber.
Türen öffneten, Türen schlossen sich, Schatten versanken und erhoben sich wieder. Idas kurzer Blick, wenn
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