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Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Titel: Der kleine Freund: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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wenn er mich gesehen hätte – so, wie er da rumgesucht hat.« Hely imitierte den Gesichtsausdruck und ließ mit verzerrtem Gesicht den Blick wild über den Boden schweifen.
    »Was hat er denn gesucht?«
    »Ich weiß es nicht. Aber im Ernst, ich leg mich nicht mehr mit ihm an, Harriet, und du solltest es lieber auch nicht tun. Wenn er oder einer von seinen Brüdern rauskriegt, dass wir das waren, die die Schlange geworfen haben, dann sind wir tot. Hast du das Stück aus der Zeitung nicht gelesen, das ich dir geschickt hab?«
    »Ich hatte keine Gelegenheit.«
    »Na, es war seine Grandma«, sagte Hely nüchtern. »Und sie wär fast gestorben.«
    Edies Gartentür öffnete sich knarrend. Harriet sprang plötzlich auf. »Odean!«, rief sie. Aber die kleine schwarze Dame in Strohhut und baumwollenem Gürtelkleid richtete den Blick auf Harriet, ohne den Kopf zu drehen, und antwortete nicht. Sie presste die Lippen zusammen, und ihr Gesicht war starr. Langsam schlurfte sie zur hinteren Veranda, stieg die Stufen hinauf und klopfte an die Tür.
    »Miz Edith da?« Sie legte eine Hand an die Schläfe und spähte durch das Fliegengitter.
    Nach kurzem Zögern setzte Harriet sich wieder in die Schaukel; sie war wie vom Donner gerührt, und die brüske Abfuhr ließ ihre Wangen glühen. Odean war alt und bärbeißig, und Harriet hatte nie ein besonders gutes Verhältnis zu ihr gehabt, aber niemand hatte Libby näher gestanden. Die beiden waren wie ein altes Ehepaar gewesen, nicht nur in ihren Streitigkeiten
(bei denen es meistens um Libbys Katze gegangen war, die Odean verabscheute), sondern auch in ihrer stoischen, kameradschaftlichen Zuneigung zueinander, und bei ihrem Anblick hatte Harriets Herz einen heftigen Aufschwung verspürt.
    Seit dem Unfall hatte sie nicht mehr an Odean gedacht. Odean war bei Libby gewesen, seit sie beide junge Frauen gewesen waren, draußen in »Drangsal«. Wo würde sie jetzt hingehen, was würde sie anfangen? Odean war eine klapprige alte Lady und bei schlechter Gesundheit, und im Haushalt war sie (wie Edie oft beklagte) nicht mehr viel nütze.
    Durcheinander auf der Veranda. »Da«, sagte drinnen jemand und trat beiseite, und dann schob Tat sich seitwärts auf die Veranda. »Odean!«, sagte sie. »Du kennst mich doch, oder? Ediths Schwester?«
    »Wieso hat niemand mir von Miss Libby erzählt?«
    »Du liebe Güte... O je. Odean.« Ein Blick zurück auf die Veranda, perplex, beschämt. »Das tut mir so Leid. Willst du nicht hereinkommen?«
    »Mae Helen, die bei Mrs. McLemore arbeitet, ist gekommen und hat’s mir erzählt. Niemand hat mich geholt. Und Sie haben sie schon unter die Erde gebracht.«
    »Oh, Odean! Wir haben nicht gedacht, dass du Telefon hast...«
    In der Stille, die darauf folgte, pfiff eine Meise: vier klare, muntere, freundliche Töne.
    »Sie hätten mich holen müssen.« Odeans Stimme brach. Ihr kupferfarbenes Gesicht blieb unbewegt. »Zu Hause. Ich wohn draußen in Pine Hill. Das wissen Sie. Die Mühe hätten Sie sich wirklich machen können...«
    »Odean... o je«, sagte Tat hilflos. Sie holte tief Luft und sah sich um. »Bitte, willst du nicht hereinkommen und dich kurz hinsetzen?«
    »Nein, Ma’am«, sagte Odean steif. »Ich danke.«
    »Odean, es tut mir so Leid. Wir dachten ja nicht...«
    Odean wischte eine Träne weg. »Ich hab siebenundfünfzig Jahre bei Miss Lib gearbeitet, und niemand hat mir auch nur gesagt, dass sie im Krankenhaus war.«
    Tat schloss kurz die Augen. »Odean.« Eine ganze Weile war es entsetzlich still. »Oh, das ist schrecklich. Wie kannst du uns verzeihen?«
    »Die ganze Woche über denk ich, Sie sind oben in South Carolina, und ich soll nächsten Montag wieder arbeiten kommen. Und da liegt sie unter der Erde.«
    »Bitte. « Tat legte ihr eine Hand auf den Arm. »Warte hier, ich hole Edith. Wirst du hier warten, nur einen Augenblick?«
    Aufgelöst lief sie ins Haus. Auf der Veranda wurden die Gespräche wieder aufgenommen, leise und unverständlich. Odean wandte sich mit ausdrucksloser Miene ab und starrte ins Leere. Jemand – ein Mann – sagte in unüberhörbarem Flüsterton: »Ich glaube, sie will ein bisschen Geld.«
    Das Blut stieg Harriet heiß ins Gesicht. Odean blieb mit dumpfem Gesicht und ohne mit der Wimper zu zucken, wo sie war, und rührte sich nicht. Unter all den großen weißen Leuten in Sonntagskleidung sah sie sehr klein und grau aus: ein einsamer Zaunkönig in einem Schwarm von Staren. Hely war aufgestanden und stand hinter der

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