Der kleine Freund: Roman (German Edition)
Harriet barfuß an einer offenen Tür vorbeirannte, war ein herber, köstlicher Segen: Liebe, die einfach da war. Ida! Ihre Lieblingssnacks (Lutscher, Melasse auf kaltem Maisbrot), ihre »Sendungen«. Späße und Standpauken, Esslöffel voll Zucker, der wie Schnee auf den Grund des Eisteeglases sank. Seltsame alte, traurige Lieder, die aus der Küche heraufwehten (Sehnst du dich nicht nach der Mutter manchmal, manchmal... ?) , und Vogelrufe aus dem Garten, während die weiße Wäsche an der Leine flatterte, Pfeifen und Trillern, kit kit , kit kit , das süße Klingen von poliertem Silber im Spülbecken, die vielfältigen Geräusche des Lebens selbst.
Aber das alles war nicht mehr da. Ohne Ida dehnte sich die Zeit und versank in einer endlos schimmernden Leere. Stunden und Tage, Licht und Dunkelheit glitten unbemerkt ineinander, es gab keinen Unterschied mehr zwischen Lunch und Frühstück, Werktag und Wochenende, Morgengrauen und Abenddämmerung, und es war, als lebe Harriet tief in einer Höhle bei künstlichem Licht.
Mit Ida war so manches Labsal verschwunden. Dazu gehörte der Schlaf. Nacht für Nacht hatte Harriet im klammen Chickadee Wigwam auf sandigen Laken wach gelegen, mit Tränen in den Augen, denn niemand außer Ida konnte das Bett so machen, wie sie es gern hatte. In Motels und manchmal sogar bei Edie zu Hause lag Harriet bis tief in die Nacht hinein mit offenen Augen da, krank vor Heimweh und im schmerzlichen Bewusstsein fremdartiger Stoffe und unvertrauter Gerüche (Parfüm, Mottenkugeln, Waschmittel, die Ida nicht benutzte), aber mehr als alles andere krank vor Sehnsucht nach Idas Handschrift: unerklärbar, stets beruhigend, wenn sie einsam oder angstvoll aufwachte, und niemals wunderbarer als dann, wenn sie fehlte.
Harriet war in eine Stille voller Echos zurückgekehrt, in ein verzaubertes Haus, von einer Dornenhecke umgeben. Auf ihrer Seite des Zimmers (bei Allison herrschte das Chaos) war alles so vollkommen, wie Ida es hinterlassen hatte: ein ordentlich
gemachtes Bett, weiße Rüschen, und Staub, der sich wie Reif auf alles legte.
Und so blieb es auch. Das Laken unter der Decke war immer noch frisch. Idas Hand hatte es gewaschen und glatt gezogen; es war die letzte Spur von Ida im Hause, und sosehr Harriet sich danach sehnte, in ihr Bett zu kriechen, das Gesicht im herrlich weichen Kopfkissen zu vergraben und die Decke über den Kopf zu ziehen, sie brachte es doch nicht über sich, dieses letzte kleine Stück Himmel, das ihr geblieben war, in Unordnung zu bringen. Nachts schwebte das Spiegelbild des Bettes hell und durchscheinend in den schwarzen Fensterscheiben wie schaumiger weißer Konfekt, weich wie eine Hochzeitstorte. Aber es war ein Festschmaus, den sie nur sehnsüchtig anschauen konnte, denn wenn sie einmal in dem Bett schliefe, wäre selbst die Hoffnung auf Schlaf dahin.
Also schlief sie oben auf der Decke. Unruhige Nächte, in denen Mücken sie in die Beine stachen und in ihren Ohren sirrten. Früh morgens war es kühl, und mitunter richtete Harriet sich schlaftrunken auf, um nach einer Phantombettdecke zu greifen; wenn ihre Hände ins Leere fassten, plumpste sie zurück auf die Decke, zuckte wie ein Terrier im Schlaf und träumte. Sie träumte von schwarzem Sumpfwasser mit Eis, von ländlichen Pfaden, auf denen sie wieder und wieder entlanglaufen musste, obwohl sie vom Barfußlaufen einen Splitter im Fuß hatte. Träumte, wie sie durch dunkles Seewasser nach oben schwamm und mit dem Kopf gegen eine Metallplatte stieß, die ihr den Weg versperrte, sodass sie die Luft darüber nicht erreichen konnte. Träumte, wie sie sich bei Edie zu Hause unter dem Bett versteckte, vor irgendeiner unheimlichen – und unsichtbaren – Erscheinung, die ihr mit leiser Stimme zurief: »Hast du mir was dagelassen, Missy? Hast du mir was dagelassen?« Morgens wachte sie spät und erschöpft auf, und ein rotes Muster von der Tagesdecke hatte sich tief in ihre Wange geprägt. Und noch bevor sie die Augen öffnete, wagte sie nicht, sich zu bewegen, sondern lag still in dem atemlosen Bewusstsein, dass etwas nicht in Ordnung war, wenn sie jetzt aufwachte.
Und so war es auch. Im Haus war es beängstigend trüb und still. Wenn sie aufstand und auf Zehenspitzen zum Fenster ging und den Vorhang aufzog, tat sie es mit dem Gefühl, als sei sie die einzige Überlebende einer schrecklichen Katastrophe. Montag: die Wäscheleine leer. Wie konnte es Montag sein, wenn keine Laken und Hemden an der Leine flatterten?
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