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Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Titel: Der kleine Freund: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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sie morgens zur Schule gingen. Ida Rhew, die für das Kochen zuständig war, kam erst um acht zur Arbeit, und ihre Mutter, die ohnehin selten viel aß, nahm zum Frühstück nur eine Zigarette und gelegentlich eine Flasche Pepsi zu sich.
    Aber dies war kein Schulmorgen, sondern ein Werktagmorgen zu Beginn der Sommerferien. Edie stand mit einer getüpfelten Schürze über dem Kleid am Herd und machte ein Rührei für sich. Es passte ihr nicht, dass Harriet am Tisch saß und
las, aber es war leichter, sie einfach gewähren zu lassen, statt sie alle fünf Minuten zu maßregeln.
    Das Ei war fertig. Sie drehte die Flamme ab und ging zum Schrank, um einen Teller zu holen. Dabei war sie gezwungen, über die Gestalt ihrer zweiten Enkelin hinwegzusteigen, die lang ausgestreckt bäuchlings auf dem Küchenlinoleum lag und monoton vor sich hinschluchzte.
    Edie ignorierte das Schluchzen; vorsichtig stieg sie über Allison zurück und löffelte sich das Rührei auf den Teller. Dann ging sie sorgfältig um Allison herum zum Küchentisch, setzte sich der versunkenen Harriet gegenüber und fing schweigend an zu essen. Sie war viel zu alt für so etwas. Sie war seit fünf Uhr früh auf den Beinen, und sie hatte die Kinder bis obenhin satt.
    Das Problem war die Katze der Kinder, die auf einem Handtuch in einem Pappkarton neben Allisons Kopf lag. Vor einer Woche hatte sie aufgehört zu fressen, und dann hatte sie angefangen zu jammern, wenn man sie aufhob. Sie hatten sie zu Edie gebracht, damit Edie sie untersuchte.
    Edie verstand sich auf Tiere, und sie dachte oft, dass sie eine gute Tierärztin oder sogar Ärztin geworden wäre, wenn Mädchen so etwas zu ihrer Zeit getan hätten. Sie hatte zahllose Kätzchen und Welpen gesund gepflegt, hatte kleine Vögel aufgepäppelt, die aus dem Nest gefallen waren, und bei allen möglichen verletzten Geschöpfen die Wunden gesäubert und die gebrochenen Knochen gerichtet. Die Kinder wussten das – nicht nur ihre Enkel, sondern alle Kinder in der Nachbarschaft  – und brachten ihr zusätzlich zu den eigenen kranken Haustieren auch noch jeden erbarmungswürdigen kleinen Streuner oder sonstiges Kleintier.
    Aber so gern Edie Tiere hatte, neigte sie ihnen gegenüber nicht zur Gefühlsduselei. Und ebenso wenig konnte sie, wie sie den Kindern zu bedenken gab, Wunder wirken. Nachdem sie die Katze kurz untersucht hatte, die in der Tat teilnahmslos erschien, ohne dass ihr erkennbar etwas fehlte, hatte sie sich aufgerichtet und die Hände am Rock abgewischt, während ihre Enkelinnen sie hoffnungsvoll anschauten.
    »Wie alt ist diese Katze eigentlich?«, fragte sie die Mädchen.
    »Sechzehneinhalb«, sagte Harriet.
    Edie bückte sich und streichelte das arme Ding, das mit wildem, jammervollem Blick am Tischbein lehnte. Sie hatte die Katze selbst gern. Es war Robins Kätzchen gewesen. Er hatte es im Sommer auf dem heißen Gehweg gefunden; halb tot hatte es dagelegen, die Augen fast geschlossen, und er hatte es behutsam in den gewölbten Händen zu ihr getragen. Edie hatte höllische Mühe gehabt, es zu retten. Ein Knäuel Maden hatte ein Loch in seine Flanke gefressen, und sie konnte sich noch erinnern, wie ergeben und klaglos das kleine Ding dagelegen hatte, als sie die Wunde in einer flachen Schüssel mit lauwarmem Wasser auswusch, und wie rosarot das Wasser gewesen war, als sie fertig war.
    »Er wird wieder gesund, nicht wahr, Edie?«, sagte Allison, schon damals den Tränen nahe. Der Kater war ihr bester Freund. Nach Robins Tod hatte er sich ihr angeschlossen; er folgte ihr umher und brachte ihr kleine Geschenke, die er gestohlen oder erlegt hatte (tote Vögel, schmackhafte Brocken aus dem Abfall und einmal mysteriöserweise eine ungeöffnete Packung Haferkekse). Seit sie zur Schule ging, kratzte er jeden Nachmittag um Viertel vor drei an der Hintertür und wollte hinausgelassen werden, damit er zur Ecke hinunterlaufen und sie erwarten konnte.
    Allison ihrerseits überhäufte den Kater mit mehr Zuneigung als jedes andere Lebewesen, Familienmitglieder eingeschlossen. Sie sprach unentwegt mit ihm, fütterte ihn mit Häppchen von Hühnerfleisch und Schinken von ihrem Teller, und nachts beim Schlafen durfte er seinen Bauch über ihren Hals drapieren.
    »Wahrscheinlich hat er was gegessen, was er nicht vertragen hat«, meinte Harriet.
    »Wir werden sehen«, sagte Edie.
    Aber in den nächsten Tagen bestätigte sich ihr Verdacht. Dem Kater fehlte nichts, er war nur alt. Sie bot ihm Thunfisch an und versuchte,

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