Der kleine Freund: Roman (German Edition)
wurde – fuhr panisch erschrocken in ihrem Bett hoch. Was sie so erschreckt hatte, welcher Traum, wusste sie nicht genau.
Draußen war es Tag, aber noch nicht lange. Der Regen hatte aufgehört, und im Zimmer war es still und voller Schatten. Von Allisons Bett her starrten durcheinander gewürfelte Teddybären und ein schielendes Känguru über die Verwehungen der Bettdecke hinweg zu ihr herüber. Von Allison war nur eine lange Haarsträhne zu sehen, die fächerförmig über das Kopfkissen ausgebreitet war wie das Haar eines ertrunkenen Mädchens, das auf der Wasseroberfläche trieb.
In der Kommode waren keine sauberen Hemden mehr. Leise zog sie Allisons Schublade auf, und zu ihrem Entzücken fand sie in dem Durcheinander der schmutzigen Sachen ein gebügeltes und säuberlich zusammengefaltetes Hemd: ein altes Girl-Scout-Hemd. Harriet drückte es ans Gesicht und atmete tief und verträumt ein, denn es duftete immer noch, ganz leicht, nach Idas Wäsche.
Harriet zog Schuhe an und ging auf Zehenspitzen die Treppe hinunter. Bis auf das Ticken der Uhr war alles still; das wüste Durcheinander wirkte irgendwie weniger schmutzig in diesem Morgenlicht, das prachtvoll auf dem Treppengeländer und auf der staubigen Mahagonitischplatte lag. An der Treppe lächelte das frische Schulmädchen auf dem Porträt ihrer Mutter: rosarote Lippen, weiße Zähne, riesige, funkelnde Augen mit weißen Sternen, die – ting – in strahlenden Pupillen blitzten. Harriet schlich sich daran vorbei, geduckt wie eine Einbrecherin vor einem Bewegungsmelder, und ins Wohnzimmer, wo sie sich bückte und den Revolver unter Idas Sessel hervorholte.
Im Wandschrank in der Diele suchte sie etwas, worin sie ihn transportieren könnte, und sie fand eine solide Plastiktüte mit Kordelzug. Aber die Umrisse der Waffe, sah sie, waren durch das Plastik sichtbar. Sie nahm sie wieder heraus, wickelte sie in ein paar dicke Lagen Zeitungspapier und warf sich das Bündel dann über die Schulter wie Dick Whittington aus ihrem Märchenbuch, der auszog, sein Glück zu machen.
Als sie aus dem Haus kam, fing ein Vogel an zu singen, dicht an ihrem Ohr, so schien es: eine liebliche, klare Tonleiter, die anschwoll, abfiel und wieder aufstieg. Obwohl der August noch
nicht vorbei war, prickelte etwas staubig und kühl wie der Herbst in der Morgenluft; die Zinnien in Mrs. Fountains Garten – knallfroschrot, glühend orangegelb und golden – ließen allmählich die Köpfe hängen, sommersprossig, zerzaust, verblassend.
Von den Vögeln abgesehen, die laut und durchdringend sangen, mit einem übergeschnappten Optimismus, der etwas Dringliches hatte, war die Straße einsam und still. Sogar der unbedeutende Klang ihrer Schritte auf dem Asphalt schien weithin zu hallen.
Tauglitzerndes Gras, feuchte Straßen, die sich breit und schwarz dahinzogen, als führten sie ins Endlose. Je näher sie dem Güterbahnhof kam, desto kleiner wurden die Rasenflächen, desto schäbiger die Häuser, und desto dichter standen sie zusammen. Als sie ein paar Straßen weit in Richtung Italien Town gegangen war, rauschte ein einsames Auto vorbei.
Jenseits der Natchez Street waren die Gehwege bucklig und rissig und sehr schmal, nicht mal einen halben Meter breit. Harriet sah vernagelte Gebäude mit durchhängenden Veranden, Gärten mit verrosteten Propantanks, Gras, das seit Wochen nicht gemäht worden war. Ein roter Chow-Chow mit verfilztem Fell prallte scheppernd gegen seinen Maschendrahtzaun, und die Zähne blitzten in seiner blauen Schnauze. So bösartig er war, dieser Chow, Harriet hatte doch Mitleid mit ihm. Er sah aus, als habe er im ganzen Leben noch kein Bad bekommen, und im Winter ließen seine Besitzer ihn draußen mit nichts als einer alten Pastetenkonserve aus Aluminium, in der gefrorenes Wasser stand.
Vorbei an der Lebensmittelkartenstelle, vorbei an dem ausgebrannten Gemüseladen (vom Blitz getroffen, nie wieder aufgebaut worden), bis sie in die Schotterstraße einbog, die zum Güterbahnhof und zum Wasserturm der Eisenbahn führte. Sie hatte keine klare Vorstellung von dem, was sie tun wollte oder was sie erwartete – und am besten dachte sie auch nicht allzu viel darüber nach. Bemüht richtete sie den Blick auf den nassen Schotter, der von schwarzem Reisig und belaubten Zweigen
übersät war, die das Unwetter in der vergangenen Nacht abgerissen hatte.
Vor langer Zeit hatte der Wasserturm das Wasser für die Dampflokomotiven enthalten, aber ob er jetzt noch für irgendetwas
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