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Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Titel: Der kleine Freund: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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sich, werde ich davon nicht sterben. Harriet war schon aus ziemlich großen Höhen heruntergefallen (und gesprungen): vom Dach des Werkzeugschuppens, von dem dicken Ast des Pecanbaums in Edies Garten, von dem Gerüst vor der Presbyterianerkirche – und sie hatte sich nie etwas gebrochen. Aber so hoch oben fühlte sie sich neugierigen Blicken schutzlos ausgesetzt, und bei jedem Geräusch, das von unten kam, bei jedem Knistern, jedem Vogelruf verspürte sie den Drang, den verrosteten Träger zwei Handbreit vor ihrer Nase aus den Augen zu lassen. Aus dieser Nähe betrachtet, war der Träger eine Welt für sich, die Wüstenoberfläche eines rostroten Planeten...
    Ihre Hände wurden taub. Auf dem Schulhof – beim Tauziehen, oder wenn sie an einem Seil oder an der obersten Sprosse des Kletterturms hing – überkam sie manchmal der seltsame Impuls, den Griff zu lockern und sich fallen zu lassen, und gegen diesen Impuls musste sie auch jetzt ankämpfen. Zähneknirschend zog sie sich höher, und sie konzentrierte ihre ganze Kraft in die Fingerspitzen, und ein Vers aus einem alten Buch, einem Kinderbuch, löste sich in ihrem Kopf und klimperte darin herum:
    Old Mr. Chang hat einen Zopf,
Trägt einen Korb auf seinem Kopf.
Mit zwei Scheren zerschneid’t er sein Essen,
Mit zwei Paar Stäbchen wird’s dann gegessen...
    Unter Aufbietung ihrer letzten Willenskraft packte sie die unterste Querstrebe und zog sich hoch. Old Mr. Chang! Sein Bild in dem Buch hatte ihr Todesangst eingejagt, als sie klein
war: mit seinem spitzen Chinesenhut, seinem fadendünnen Schnurrbart und seinen gestreckten, schlauen Mandarinaugen, aber das Furchterregendste an ihm war die schlanke Schere, die er mit zierlicher Gebärde hochhielt, und sein breites, dünnes, spöttisches Lächeln ...
    Harriet hielt einen Augenblick inne und betrachtete ihre Position. Als Nächstes – und das war der schwierige Teil – würde sie das Bein in den freien Raum schwingen müssen, zu der Kreuzstrebe. Sie atmete tief durch und zog sich ins Leere.
    Ein Seitenblick fiel auf den Boden, der schief zu ihr heraufwogte, und einen Herzschlag lang war Harriet sicher, dass sie abstürzen würde. Im nächsten Moment lag sie rittlings auf der Strebe und umklammerte sie wie ein Faultier. Sie war jetzt sehr hoch über dem Boden, hoch genug, um sich den Hals zu brechen, und sie schloss die Augen und ruhte sich kurz aus, die Wange an das raue Eisen geschmiegt.
    Old Mr. Chang hat einen Zopf,
Trägt einen Korb auf seinem Kopf.
Mit zwei Scheren zerschneid’t er sein Essen...
    Vorsichtig öffnete sie die Augen, stützte sich auf den Querträger und richtete sich auf. Wie hoch sie hier war! Genau so hatte sie schon einmal gesessen – rittlings auf einem Ast, mit lehmbeschmierter Unterhose, und Ameisen hatten sie in die Beine gebissen –, als sie von einem Baum nicht wieder heruntergekommen war. Hochgeklettert war sie, furchtlos »wie ein verdammtes Eichhörnchen«, hatte der alte Mann gerufen, der zufällig vorbeigekommen war und Harriets dünnes, verlegenes Stimmchen gehört hatte, das aus der Höhe um Hilfe gerufen hatte.
    Langsam stand Harriet auf. Ihre Hände umklammerten den Träger, und ihre Knie zitterten. Sie verlagerte den Griff auf die Kreuzstrebe über ihr und ging – mit einer Hand über die andere greifend – hinunter. Sie sah ihn immer noch vor sich, diesen alten Mann mit seinem Buckel und dem flachen, blutunterlaufenen Gesicht, das durch eine Wildnis von Ästen
zu ihr heraufspähte. »Zu wem gehörst du?«, hatte er mit heiserer Stimme gerufen. Er hatte in dem grauen Stuckhaus bei der Baptistenkirche gewohnt, dieser alte Mann, und zwar allein. Jetzt war er tot, und in seinem Vorgarten war nur noch ein Stumpf, wo der Pecanbaum gestanden hatte. Wie war er erschrocken, als ihre emotionslosen Rufe (»Hilfe ... Hilfe ...«) aus dem Nichts herabgeweht waren – hatte nach oben und unten und hin und her geschaut, als habe ihm ein Gespenst auf die Schulter geklopft!
    Der Winkel des X wurde jetzt zu eng, um darin zu stehen. Harriet setzte sich wieder rittlings auf die Strebe und umklammerte die gegenüberliegende. Es war ein heikler Winkel; sie hatte nicht mehr viel Gefühl in den Händen, und ihr Herz schien fast zu platzen, als sie sich mit vor Erschöpfung zitternden Armen ins Leere hinaus und auf die andere Seite schwang.
    Jetzt war sie in Sicherheit. Sie rutschte auf der linken unteren Strebe des X hinunter, als wäre sie das Treppengeländer bei ihr zu

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