Der kleine Freund: Roman (German Edition)
klick , klick , klick , »da hat mein Diddy gesagt, ein Mann, der sich auf’n Stuhl setzt und ein Buch liest, mit dem stimmt was nicht.«
Das sagte sie mit friedvoller Zärtlichkeit, als mache die schlichte Weisheit dieser Bemerkung ihrem Vater Ehre. Die Broschüre lag auf dem Tisch. Sie streckte eine zitternde alte Hand aus und hob sie auf. Mit ausgestrecktem Arm hielt sie sie vor sich und betrachtete die Vorderseite. Dann drehte sie sie um und schaute die Rückseite an. »Mein armer Gene.«
Eugene sah sie über die Brille hinweg an. »Was denn?«
»Ach«, sagte Gum nach einer nachsichtigen Pause. »Na ja. Ich seh’s einfach nicht gern, dass du dir solche Hoffnungen machst. Ist ’ne harte Welt für Leute wie uns. ’n scheußlicher
Gedanke für mich, all die jungen College-Professoren, die vor dir um einen Job anstehen.«
»Gum, kann ich mir das verdammte Ding nicht einfach mal angucken?« Sie meinte es sicher nicht böse, seine Großmutter: Sie war eine arme, kleine, gebrechliche alte Lady, die ihr Leben lang schwer gearbeitet, nie etwas besessen, nie eine Chance gehabt hatte – die nie gewusst hatte, was eine Chance war. Aber warum das bedeuten sollte, dass auch ihre Enkel keine Chance hatten, das begriff Eugene nicht so recht.
»Das hab ich in der Bürgerberatung gekriegt, Gum«, sagte er. »Gratis. Du solltest auch mal hingehen und dich umsehen. Über jede Sorte Obst und Gemüse und Bäume, die es gibt, haben die was da, wie man es anpflanzt und so weiter.«
Danny, der die ganze Zeit still dagesessen und ins Leere gestarrt hatte, stand ein bisschen zu plötzlich auf. Sein Blick war glasig, und er schwankte. Eugene und Gum schauten ihn an. Er tat einen Schritt rückwärts.
»Die Brille steht dir gut«, sagte er zu Eugene.
»Danke.« Befangen hob Eugene die Hand, um die Brille zurechtzurücken.
»Sieht gut aus«, sagte Danny. In seinen glasigen Augen lag eine unbehagliche Faszination. »Solltest du immer tragen.«
Er drehte sich um, seine Knie knickten ein, und er fiel zu Boden.
All die Träume, die Danny in den letzten paar Wochen von sich fern gehalten hatte, brachen donnernd über ihn herein, wie die Wassermassen an einem gebrochenen Damm, und Trümmer und Treibgut aus verschiedenen Phasen seines Lebens krachten mit herunter – sodass er wieder dreizehn war und auf seiner Pritsche lag, die erste Nacht in der Jugendstrafanstalt (braune Hohlblockwände, ein Industrieventilator, der auf dem Zementboden stand und hin- und herschwankte, als wolle er durchstarten und davonfliegen). Aber er war auch fünf – in der ersten Klasse – und neun, als seine Mutter im Krankenhaus war und ihm so schrecklich fehlte; er hatte solche Angst davor,
dass sie sterben könnte, und vor seinem betrunkenen Vater im Nebenzimmer, dass er in einem Delirium des Grauens wach lag und sich jedes einzelne Gewürz auf den bedruckten Vorhängen einprägte, die damals in seinem Zimmer gehangen hatten. Es waren alte Küchenvorhänge gewesen; Danny wusste heute noch nicht, was Koriander war oder Piment, aber er sah noch immer die braunen Buchstaben vor sich, die auf dem senfgelben Baumwollstoff klingelten (Piment, Muskat, Koriander, Nelken), und die Namen allein waren ein Gedicht, das einen grinsenden Alptraum im Zylinderhut an sein Bett beschwor...
Danny warf sich im Bett hin und her und war alle diese Jungen und zugleich er selbst, zwanzig Jahre alt – mit einem Vorstrafenregister, mit einem Drogenproblem, mit einem Vermögen in Gestalt von Farishs Stoff, das mit schriller Geisterstimme aus seinem Versteck hoch über der Stadt nach ihm rief, sodass der Wasserturm sich mit einem Baum verband, auf den er als Kind einmal geklettert war, um einen Hühnerhundwelpen hinunterzuwerfen, weil er sehen wollte, was passierte (der Welpe war krepiert). Seine Schuldgefühle bei dem Gedanken daran, Farish zu beklauen, wurden wie in einer zugestöpselten Flasche zusammengeschüttelt mit den beschämenden Kindheitslügen, die er erzählt hatte – dass er Rennwagen gefahren und Leute zusammengeschlagen und umgebracht habe –, mit Erinnerungen an Schule, Gericht, Gefängnis, an die Gitarre, die er nicht mehr hatte spielen dürfen, weil sein Vater gesagt hatte, es sei zu viel Arbeit (Wo war diese Gitarre? Er musste sie finden, draußen warteten Leute im Wagen, wenn er sich nicht beeilte, würden sie ohne ihn fahren). Alle diese widersprüchlichen Zeiten und Orte zerrten an ihm. Er sah seine Mutter – seine Mutter! –, die durch das
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