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Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Titel: Der kleine Freund: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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benutzt wurde, wusste sie nicht. Zwei Jahre zuvor waren Harriet und ein Junge namens Dick Pillow hinaufgeklettert, um festzustellen, wie weit man dort oben sehen konnte: ziemlich weit, praktisch bis zur Interstate. Die Aussicht war faszinierend gewesen: flatternde Wäsche an den Leinen, spitze Dächer, die aussahen wie ein Feld voller Origami-Bögen, rote und schwarze und grüne und silberne Dächer, Dächer aus Dachpfannen und Kupfer und Teerpappe und Wellblech, die sich in der luftig traumhaften Ferne unter ihnen ausbreiteten. Es war, als schaue man in ein anderes Land. Das Panorama hatte etwas wunderlich Spielzeughaftes, das sie an Bilder von Asien erinnerte, die sie gesehen hatte, von China und Japan. Dahinter kroch der Fluss, das gelbe Wasser wellig und blinkend, und die Entfernungen erschienen so grenzenlos, dass man sich leicht vorstellen konnte, gleich hinter dem Horizont, jenseits der lehmigen Drachenwindungen des Flusses, liege ein funkelndes Uhrwerk-Asien, hämmernd und summend und Millionen von winzigen Glocken läutend.
    Der Blick hatte sie so vollständig gefangen genommen, dass sie auf den Tank selbst kaum geachtet hatte. So sehr sie sich bemühte, sie konnte sich nicht mehr genau entsinnen, wie es dort oben genau aussah oder wie der Tank gebaut war – sie wusste nur, dass er aus Holz war und dass im Dach eine Falltür gewesen war, in ihrer Erinnerung ungefähr einen halben Meter im Quadrat, mit Scharnieren und einem Griff wie an einem Küchenschrank. Zwar hatte sie eine so lebhafte Fantasie, dass sie nie ganz sicher sein konnte, woran sie sich tatsächlich erinnerte und was ihre Vorstellungskraft hineingemalt hatte, um die Lücken zu füllen, aber je länger sie an Danny Ratliff dachte, wie er oben auf dem Turm gekauert hatte (seine angespannte Haltung, die aufgeregten Blicke, die er immer wieder hinter sich geworfen hatte), desto mehr schien es, als habe er dort oben etwas versteckt oder sich selbst verstecken wollen.
Aber was ihr immer wieder in den Sinn kam, war die klirrende, exzentrische Erregung, mit der sein Blick den ihren gestreift hatte und aufgelodert war wie ein Signalspiegel in der Sonne: Es war, als reflektiere er einen Code, einen Notruf, ein Wiedererkennen. Irgendwie hatte ergewusst, dass sie da draußen war; sie war innerhalb seines Bewusstseins, und auf eine seltsame Weise (Harriet erkannte es mit Frösteln) war Danny Ratliff der einzige Mensch, der sie wirklich Lange angeschaut hatte.
    Die Bahnschienen blinkten wie dunkles Quecksilber in der Sonne, wie Arterien, die sich an den Weichen silbern verzweigten; die alten Telegrafenmasten waren zottig von Ranken und Lianen, und darüber erhob sich der Wasserturm, ausgebleicht von der Sonne. Wachsam ging Harriet über die unkrautbewachsene Lichtung darauf zu und um ihn herum, ein paarmal, ringsherum um die verrosteten Metallbeine, im Abstand von ungefähr drei Metern.
    Dann warf sie einen nervösen Blick hinter sich (keine Autos, kein Motorengeräusch, kein Laut außer dem Vogelgezwitscher) und trat an die Leiter, um hinaufzuspähen. Die unterste Sprosse war höher, als sie es in Erinnerung hatte. Nur ein sehr großer Mann hätte nicht springen müssen, um sie zu erreichen. Als sie zwei Jahre zuvor mit Dick hier gewesen war, hatte sie auf seine Schultern klettern müssen, und dann war er in halsbrecherischer Weise auf den Bananensattel seines Fahrrads gestiegen, um ihr zu folgen.
    Harriet betrachtete die Beine des Tanks: H-Träger aus Metall mit länglichen Löchern im Halbmeterabstand, ganz leicht abgewinkelt. Weiter oben war der Unterbau mit Metallstreben verbunden, die sich zu einem großen X kreuzten. Wenn sie sich an einem der vorderen Beine weit genug hochziehen könnte (es war ziemlich weit; Harriet konnte nicht gut Entfernungen schätzen), könnte sie sich vielleicht auf einer der unteren Kreuzstreben zur Leiter hinüberschieben.
    Tapfer fing sie an. Die Schnittwunde an ihrer linken Handfläche war zwar verheilt, aber noch empfindlich, und sie war gezwungen, die Hand zu schonen. Die Löcher in den Eisenträgern
waren gerade groß genug, um die Finger und die Spitzen ihrer Turnschuhe hineinzuschieben.
    Schwer atmend kletterte sie hoch. Sie kam langsam voran. Das Eisen war von dickem Rost überstäubt, der ziegelrot auf ihre Hände abfärbte. Sie hatte keine Höhenangst – Höhen erregten sie, und sie kletterte gern –, aber viel Halt fand sie nicht, und jeder Zoll erforderte Anstrengung.
    Selbst wenn ich runterfalle, sagte sie

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