Der kleine Freund: Roman (German Edition)
war, dann würde es ihm auch bei einem Priester gelingen. Er sah sich, wie er mit ihr auf einer wackligen Veranda in De Soto County stand: Harriet in ihren rot karierten Shorts und er in Pems altem Harley-Davidson-T-Shirt, das so verblichen war, dass man kaum noch lesen konnte, was draufstand: Ride Hard Die Free . Und Harriets heiße kleine Hand brannte in seiner. »Und jetzt dürfen Sie die Braut küssen.« Danach würde ihnen die Frau des Priesters Limonade bringen, und sie wären für alle Zeit verheiratet und würden dauernd mit dem Auto durch die Gegend fahren und sich amüsieren und die Fische essen, die er für sie finge. Und seine Eltern und alle zu Hause würden sich furchtbare Sorgen machen. Es wäre fantastisch.
Ein lauter Knall riss ihn aus seinen Tagträumen – dann ein Platschen und hohes, irres Gelächter. Durcheinander am anderen Ufer – die alte Schwarze ließ ihre Angelrute fallen und hielt sich die Hände vor das Gesicht, als eine Gischtwolke aus dem braunen Wasser aufspritzte.
Dann noch ein Knall und noch einer. Das Gelächter – beängstigend, grässlich – kam von der kleinen Holzbrücke weiter oben am Bach. Verdattert hob Hely die Hand vor die Sonne und sah undeutlich zwei weiße Männer. Der größere der beiden (und er war viel größer als der andere) war nur ein massiger Schatten, vor Heiterkeit vornüber gesunken, und Hely hatte nur einen verschwommenen Eindruck von seinen Händen, die über das Geländer baumelten: große, schmutzige Hände mit großen Silberringen. Die kleinere Silhouette (Cowboyhut, langes Haar) hielt mit beiden Händen eine silbern blinkende Pistole und zielte damit auf das Wasser. Er schoss noch einmal, und ein alter Mann stromaufwärts machte einen Satz rückwärts, als die Kugel vor seiner Angelschnur einen weißen Wassernebel aufsprühen ließ.
Der große Kerl auf der Brücke warf seine Löwenmähne zurück und krähte heiser. Hely sah die buschigen Umrisse eines Bartes.
Die schwarzen Kids hatten ihre Angelruten fallen lassen und kraxelten die Böschung hinauf, und die alte schwarze Frau auf der anderen Seite humpelte leichtfüßig und flink hinter ihnen her; mit der einen Hand raffte sie ihre Röcke auf, den anderen Arm streckte sie vor sich, und sie weinte.
»Beweg dich, Granma.«
Noch ein Schuss fiel, Echos schwirrten von den Böschungen zurück, Steine und Erdklumpen flogen ins Wasser. Der Kerl feuerte jetzt blindlings durch die Gegend. Hely stand wie versteinert da. Eine Kugel pfiff vorbei und ließ eine Staubwolke neben einem Baumstumpf aufstieben, wo einer der Schwarzen sich versteckt hatte. Hely ließ die Rute fallen, drehte sich um, rutschte ab, stürzte beinahe, und dann rannte er, so schnell er konnte, auf das Dickicht zu.
Er warf sich in ein Brombeergebüsch und schrie auf, als die
Dornen seine nackten Beine zerkratzten. Als wieder ein Schuss dröhnte, fragte er sich, ob die Rednecks aus dieser Entfernung wohl sehen könnten, dass er weiß war, und wenn ja, ob es sie interessierte.
Harriet brütete über ihrem Notizbuch, als ein lautes Heulen durch das offene Fenster drang, und dann hörte sie Allison aus dem Vorgarten schreien. »Harriet! Harriet! Komm schnell!«
Harriet sprang auf, stieß das Notizbuch mit dem Fuß unters Bett und rannte die Treppe hinunter und zur Haustür hinaus. Allison stand weinend auf dem Gehweg. Die Haare hingen ihr ins Gesicht. Harriet hatte die Hälfte des Weges durch den Vorgarten hinter sich, als ihr klar wurde, dass der Zementboden zu heiß für ihre bloßen Füße war. Also hüpfte sie auf einem Bein zurück zur Veranda.
»Komm doch! Schnell!«
»Ich muss mir Schuhe anziehen.«
»Was ist denn los?«, schrie Ida Rhew aus dem Küchenfenster. »Was macht ihr denn für’n Theater da draußen?«
Harriet polterte die Treppe hinauf und stürmte mit klatschenden Sandalen wieder hinunter. Ehe sie fragen konnte, was los war, stürzte Allison ihr entgegen, packte sie beim Arm und schleifte sie die Straße hinunter. »Komm schon. Beeil dich.«
Stolpernd (in Sandalen zu rennen war schwierig) schlappte Harriet hinter Allison her, so schnell es ging. Dann blieb Allison, immer noch weinend, stehen, schleuderte den freien Arm nach vorn und deutete auf etwas Krächzendes, Flatterndes mitten auf der Straße.
Es dauerte einen oder zwei Augenblicke, bis Harriet erkannte, was sie da sah: eine Schwarzdrossel, die mit einem Flügel in einer Teerpfütze klebte. Der freie Flügel flatterte panisch, und zu ihrem Entsetzen
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