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Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Titel: Der kleine Freund: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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wichtig. Über Robin, seinen Tod.«
    Addie und Tat verstummten sofort. Adelaide wandte sich von ihrem Straßenatlas ab. Die unerwartete Gefasstheit der beiden war so erschütternd, dass Harriet ein jäher Schrecken durchströmte.
    »Ihr wart im Haus, als es passierte«, sagte sie in die unbehagliche Stille hinein, und die Worte purzelten ein wenig zu schnell über ihre Lippen. »Habt ihr denn nichts gehört?«
    Die beiden alten Damen warfen einander einen Blick zu, ein kurzer Augenblick der Nachdenklichkeit, in dem sie sich wortlos miteinander zu verständigen schienen. Dann holte Tatty tief Luft und sagte: »Nein. Niemand hat etwas gehört. Und weißt du, was ich glaube?«, fuhr sie fort, als Harriet sie mit einer weiteren Frage unterbrechen wollte. »Ich glaube, es ist kein gutes Thema, um damit so beiläufig zu den Leuten zu kommen.«
    »Aber ich...«
    »Du hast doch nicht etwa deine Mutter und deine Großmutter damit behelligt, oder?«
    »Ich glaube auch nicht«, sagte Adelaide steif, »dass dies ein besonders geeignetes Gesprächsthema ist. Und außerdem glaube ich«, sagte sie über Harriets aufkommende Einwände hinweg, »dass dies ein geeigneter Augenblick für dich ist, um nach Hause zu laufen, Harriet.«

    Hely saß halb geblendet von der Sonne und schwitzend auf einer von Gestrüpp überwucherten Uferböschung und beobachtete
den rot-weißen Schwimmer an seiner Bambusrute, der auf dem trüben Wasser flirrte. Er hatte seine Regenwürmer laufen lassen, weil er dachte, es könnte ihn aufmuntern, sie in einem dicken, krabbelnden Klumpen auf die Erde zu kippen und dann zuzugucken, wie sie sich davonschlängelten oder eingruben oder sonst was. Aber ihnen war nicht klar, dass sie aus dem Eimer befreit waren, und nachdem sie sich entwirrt hatten, ringelten sie sich friedlich um seine Füße. Es war deprimierend. Er pflückte einen von seinem Turnschuh, betrachtete die mumienhaften Segmente und warf ihn dann ins Wasser.
    Es gab viele Mädchen in der Schule, die hübscher waren als Harriet und vor allem netter. Aber keine war so gescheit oder so tapfer. Betrübt dachte er an ihre vielen Talente. Sie konnte Handschriften fälschen – Lehrerhandschriften – und erwachsen klingende Entschuldigungsbriefe komponieren wie ein Profi. Sie konnte Bomben aus Essig und Backpulver machen und am Telefon Stimmen imitieren. Sie schoss gern Feuerwerk ab, im Gegensatz zu vielen anderen Mädchen, die sich nicht einmal in die Nähe eines Knallfroschs wagten. In der zweiten Klasse war sie nach Hause geschickt worden, weil sie einen Jungen dazu überlistet hatte, einen ganzen Löffel Cayennepfeffer zu essen, und zwei Jahre zuvor hatte sie eine Panik ausgelöst, indem sie behauptete, der unheimliche alte Lunchpausenraum im Keller der Schule sei ein Portal zur Hölle; wenn man das Licht ausschaltete, erschien das Gesicht des Satans an der Wand. Eine Horde Mädchen war kichernd hinuntergestürmt, hatte das Licht ausgeschaltet – und dann waren sie völlig von Sinnen und schreiend vor Angst hinausgerannt. Die Kinder fingen an, krank zu spielen, damit sie zum Lunch nach Hause gehen durften, alles, um nicht mehr in den Keller zu müssen. Nachdem das Unbehagen ein paar Tage lang immer mehr zugenommen hatte, rief Mrs. Miley die Kinder zusammen und führte sie, begleitet von der zähen alten Mrs. Kennedy, der Lehrerin der sechsten Klasse, hinunter in den leeren Pausenraum (Mädchen und Jungen drängten sich hinter die beiden), und dort knipste sie das Licht aus. »Seht
ihr?«, sagte sie verächtlich. »Kommt ihr euch jetzt nicht alle ziemlich albern vor?«
    Ganz hinten, mit einer dünnen, ziemlich hoffnungslos klingenden Stimme, die doch irgendwie mehr Autorität besaß als der auftrumpfende Tonfall der Lehrerin, sagte Harriet: »Er ist da. Ich sehe ihn.«
    »Seht ihr?«, rief ein kleiner Junge. »Seht ihr?«
    Schreie – und dann heulende, panische Flucht. Denn tatsächlich: wenn man sich an die Dunkelheit gewöhnt hatte, schimmerte in der oberen linken Ecke (und sogar Mrs. Kennedy blinzelte verwirrt) ein gespenstisches grünes Leuchten, und wenn man lange genug hinschaute, sah man ein böses Gesicht mit schrägen Augen und einem Taschentuch vor dem Mund.
    Der ganze Aufruhr um den Pausenraumteufel (Eltern hatten in der Schule angerufen und Konferenzen mit dem Direktor verlangt, und Prediger von der Kirche Christi und von den Baptisten waren auf den Zug gesprungen und hatten unter dem Titel »Hinaus mit dem Teufel« und »Satan in unseren

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