Der kleine Freund: Roman (German Edition)
einem schweren Herzinfarkt zum Opfer gefallen; vom ersten hatte sie
zwei tot geborene Söhne zur Welt gebracht, vom zweiten eine Tochter, die mit achtzehn Monaten an Rauchvergiftung gestorben war, als mitten in der Nacht der Kamin im alten Apartment in der West Third Street in Brand geraten war – wütende, taumeln machende Schicksalsschläge, grausam. Aber (unter Schmerzen, Augenblick für Augenblick, Atemzug für Atemzug) kam man über alles hinweg. Wenn sie heute an die tot geborenen Zwillinge dachte, erinnerte sie sich nur noch an ihre zarten, makellos geformten Gesichtszüge und an die Augen, die friedlich geschlossen waren, als ob sie schliefen. Von allen Tragödien ihres Lebens (und sie hatte mehr als genug erlitten) schwärte keine so lange und bitter wie der Mord am kleinen Robin, eine Wunde, die niemals ganz heilte, sondern an ihr nagte, sie krank machte und mit der Zeit mehr und mehr zerfraß.
Harriet sah den abwesenden Gesichtsausdruck ihrer Tante und räusperte sich. »Ich glaube, das ist es, wonach ich dich fragen wollte, Adelaide«, sagte sie.
»Ich frage mich immer, ob sein Haar wohl mit der Zeit dunkler geworden wäre.« Adelaide hielt ihre Zeitschrift mit ausgestreckten Armen vor sich und betrachtete sie über den Rand ihrer Lesebrille hinweg. »Edith hatte mächtig rote Haare, als wir klein waren, aber sie waren nicht so rot wie seine. Ein echtes Rot. Ohne eine Spur von Orange.« Tragisch , dachte sie. Da tänzelten diese verwöhnten Yankee-Gören im Plaza Hotel herum, während ihr entzückender kleiner Neffe, der ihnen in jeder Hinsicht überlegen gewesen war, unter der Erde lag. Robin hatte niemals Gelegenheit bekommen, ein Mädchen anzufassen. Mit Wärme dachte Adelaide an ihre eigenen leidenschaftlichen Ehen und an die Spindraumküsse ihrer munteren Jugend.
»Ich wollte dich fragen, ob du irgendeine Ahnung hast, wer es vielleicht...«
»Aus ihm wäre ein echter Herzensbrecher geworden. All die kleinen Studentinnen am Ole Miss hätten sich darum geschlagen, mit ihm zum Debütantinnenball nach Greenwood zu gehen. Nicht, dass ich von all diesem Debütantinnen-Kram sehr
viel halte, mit all diesen Intrigen und Cliquen und kleinlichen...«
Tat tap tap : ein Schatten vor der Fliegentür. »Addie?«
»Wer ist da?« Adelaide schrak hoch. »Edith?«
»Darling.« Tattycorum platzte mit weit aufgerissenen Augen herein, ohne Harriet auch nur anzusehen, und warf ihre Lacklederhandtasche in einen Sessel. »Darling, kannst du dir vorstellen, dass dieser Halunke Roy Dial von dem Chevrolet-Laden jeder Einzelnen aus dem Damenzirkel sechzig Dollar für die Busfahrt der Kirche nach Charleston berechnen will? Mit diesem klapprigen Schulbus?«
»Sechzig Dollar?« , quietschte Adelaide. »Er hat gesagt, er leiht uns den Bus. Er hat gesagt, gratis.«
»Er sagt immer noch, es ist gratis. Er sagt, die sechzig Dollar sind fürs Benzin .«
»Aber das ist genug Benzin, um nach Rotchina zu fahren!«
»Na, Eugenie Monmouth ruft den Pfarrer an, um sich zu beschweren.«
Adelaide verdrehte die Augen. »Ich finde, Edith sollte ihn anrufen.«
»Ich nehme an, das tut sie auch, wenn sie es erfährt. Ich sag dir, was Emma Caradine sagt: ›Er will bloß einen fetten Profit machen.‹«
»Natürlich will er das. Dass er sich nicht schämt. Zumal Eugenie und Liza und Susie Lee und die andern von der Sozialhilfe leben...«
»Wenn es zehn Dollar wären. Zehn Dollar, das könnte ich verstehen.«
»Und dabei ist Roy Dial angeblich ein großer Diakon und so weiter. Sechzig Dollar ?« Adelaide stand auf, ging zum Telefontisch und holte sich Bleistift und Papier, um nachzurechnen. »Du meine Güte, dazu muss ich den Atlas holen«, sagte sie. »Wie viele Damen sind im Bus?«
»Fünfundzwanzig, glaube ich, nachdem Mrs. Taylor jetzt abgesagt hat und die arme alte Mrs. Newman McLemore hingefallen ist und sich die Hüfte gebrochen hat – hallo, meine süße Harriet!« Tat stieß auf sie herab und gab ihr einen Kuss. »Hat
deine Großmutter es dir erzählt? Unser Kirchenkreis macht eine Reise. ›Historische Gärten in Carolina.‹ Ich bin schrecklich aufgeregt.«
»Ich weiß nicht, ob ich noch Lust habe, wenn wir alle diesen exorbitanten Fahrpreis an Roy Dial bezahlen müssen.«
»Er sollte sich schämen. Mehr gibt es dazu nicht zu sagen. Mit seinem großen neuen Haus draußen in Oak Lawn und all den nagelneuen Autos und Wohnwagen und Booten und so...«
»Ich wollte etwas fragen«, sagte Harriet verzweifelt. »Es ist
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