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Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Titel: Der kleine Freund: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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konnte Harriet dem schreienden Geschöpf tief in den Schlund sehen, bis hinunter zu der blauen Wurzel der spitzen Zunge.
    »Tu was!«, weinte Allison.
    Harriet wusste nicht, wie sie reagieren sollte. Sie ging auf den Vogel zu und sprang dann erschrocken zurück, als das Tier durchdringend schrie und mit dem schiefen Flügel auf den Asphalt klatschte.
    Mrs. Fountain war auf ihre Veranda gekommen. »Lasst das Ding«, rief sie mit dünner, zänkischer Stimme. »Es ist eklig.«
    Harriets Herz schlug schnell gegen ihre Rippen, als sie nach dem Vogel griff und wieder zurückfuhr, als wolle sie eine glühende Kohle überlisten; sie hatte Angst, ihn zu berühren, und als die Flügelspitze ihr Handgelenk streifte, riss sie die Hand unwillkürlich zurück.
    Allison kreischte. »Kriegst du ihn nicht ab?«
    »Ich weiß nicht.« Harriet bemühte sich, ruhig zu klingen. Sie ging um den Vogel herum; vielleicht würde er sich beruhigen, wenn er sie nicht sehen konnte, aber er schrie und flatterte nur mit erneuerter Wildheit. Abgebrochene Federkiele starrten durch das wirre Gefieder, und Harriet drehte sich der Magen um, als sie glitzernde rote Schlingen erblickte, die aussahen wie rote Zahnpasta.
    Zitternd vor Aufregung kniete sie auf dem heißen Asphalt nieder. »Hör auf«, flüsterte sie, als sie beide Hände auf den Vogel zuschob, »schhh, hab keine Angst...«, aber er hatte Todesangst, flatterte und zappelte, und das wütende schwarze Auge glänzte in heller Panik. Sie schob die Hände unter ihn, stützte den festgeklebten Flügel, so gut sie konnte, zog den Kopf ein, als der andere ihr wild ins Gesicht schlug, und hob ihn hoch. Ein höllisches Kreischen – und als Harriet die Augen öffnete, sah sie, dass sie dem Vogel den festgeklebten Flügel aus der Schulter gerissen hatte. Da lag er im Teer, grotesk verlängert, und ein Knochen glitzerte blau aus dem abgerissenen Ende.
    »Leg ihn lieber hin«, hörte sie Mrs. Fountain rufen. »Der wird dich sonst beißen.«
    Der Flügel war vollständig ab, erkannte Harriet wie betäubt, als der Vogel in ihren teerverschmierten Händen zappelte und zuckte. Da, wo er gesessen hatte, war nur noch ein pulsierender Fleck, aus dem es rot sickerte.
    »Leg das Ding hin«, rief Mrs. Fountain. »Du kriegst Tollwut. Dann müssen sie dir Spritzen in den Bauch geben.«
    »Schnell, Harriet.« Allison zupfte sie am Ärmel. »Komm, beeil dich, wir bringen ihn zu Edie.« Aber der Vogel erschauerte krampfartig und erschlaffte dann in ihren vom Blut glitschigen Händen. Der glänzende Kopf hing herab. Das Gefieder, grün auf schwarz, schillerte hell wie vorher, aber der blanke schwarze Glanz von Angst und Schmerz in den Augen war schon zu dumpfer Ungläubigkeit abgestumpft, zum Grauen des unverstandenen Todes.
    »Beeil dich , Harriet«, rief Allison. »Er stirbt, er stirbt.«
    »Er ist tot«, hörte Harriet sich sagen.

    »Was ist los mit dir?«, schrie Ida Rhew hinter Hely her, der eben zur Hintertür hereingestürmt war – vorbei am Herd, an dem Ida schwitzend die Eiersoße für den Bananenpudding anrührte, durch die Küche und polternd die Treppe hinauf zu Harriets Zimmer, noch ehe die Fliegentür hinter ihm zugeschlagen war.
    Ohne anzuklopfen, stürzte er in Harriets Zimmer. Sie lag auf dem Bett, und sein Puls, der ohnehin raste, beschleunigte sich beim Anblick des Armes, der über ihrem Gesicht lag, der weißen Mulde ihrer Achselhöhle und der schmutzig braunen Sohlen ihrer Füße. Obwohl es erst halb vier nachmittags war, hatte sie einen Schlafanzug an; Shorts und Hemd, klebrig schwarz verschmiert, lagen zusammengeknüllt auf dem Teppich vor dem Bett.
    Hely schleuderte sie mit einem Tritt beiseite und ließ sich keuchend auf das Fußende fallen. »Harriet!« Er war so aufgeregt, dass er kaum sprechen konnte. »Ich bin beschossen worden! Jemand hat auf mich geschossen!«
    »Geschossen?« Unter schläfrigem Ächzen der Bettfedern drehte Harriet sich herum und sah ihn an. »Womit?«
    »Mit einer Pistole. Fast hätten sie mich getroffen. Ich war am Ufer, verstehst du, und peng , da gibt’s einen großen Klatsch, und das Wasser...« Außer sich fuchtelte er mit der Hand durch die Luft.
    »Wie kann denn jemand dich fast treffen?«
    »Das ist kein Witz , Harriet. Eine Kugel ist an meinem Kopf vorbeigepfiffen. Ich bin in die Brombeeren gesprungen, um zu entkommen. Guck dir meine Beine an! Ich...«
    Bestürzt brach er ab. Auf die Ellenbogen gestützt, lag sie da und schaute ihn an; ihr Blick war zwar

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