Der kleine Koenig Dezember
die Großen nicht verbieten!«, rief ich.
»Die Großen haben nichts zu sagen!«, sagte Dezember II. »Je kleiner einer ist, desto mehr ist er Bestimmer, weil… weil er ja die größere Lebenserfahrung hat, hihi. Und die Großen müssen ihm alle Fragen beantworten: Warum ist das Haus eckig? Warum sind auf einem Würfel nur sechs Zahlen? Warum regnet es? Wenn er die Antwort hat, kann er sie gleich wieder vergessen. Und weil die Kleinen die Bestimmer sind, haben wir Rolltreppen mit kleinen Stufen und winzige Klobrillen, durch die man nicht hindurchfallen kann. Damit muss man zurechtkommen, solange man groß ist – es geht nicht anders.«
Er stand mit einer schnellen, stolzen Bewegung auf, legte die Reste des Gummibärchens auf den Boden und versuchte seinen Mantel zu schließen. Aber das ging nicht, er ist sooooo fett. Deshalb setzte er sich seufzend wieder hin.
»Also ist«, sagte ich und gab ihm das Gummibärchen wieder in die Hand, »also ist bei euch die Kindheit am Ende des Lebens?«
»Denk mal an!«, sagte der König. »Man hat etwas, auf das man sich freuen kann!« Er sah mich lange an. »Weißt du, was ich glaube?«, sagte er dann.
»Nein«, sagte ich.
»Ich glaube, es stimmt gar nicht, dass ihr größer werdet. Ich glaube, es sieht nur so aus.«
»Wie kommst du darauf?«, fragte ich.
»Ich glaube, ihr fangt auch ganz groß an«, sagte er. »Wenn es stimmt, was du mir erzählst … also, ich stelle es mir so vor: Ihr habt alle Möglichkeiten, und jeden Tag werden euch ein paar genommen. Ihr habt eine große Phantasie, wenn ihr klein seid, aber ihr wisst ganz wenig. Weil das so ist, müsst ihr euch alles vorstellen. Ihr müsst euch vorstellen, wie das Licht in die Lampe kommt und das Bild in den Fernseher, und ihr stellt euch vor, wie die Zwerge unter den Baumwurzeln leben und wie es ist, auf der Hand eines Riesen zu stehen. Und dann werdet ihr größer, und die noch Größeren erklären euch, wie eine Lampe funktioniert und ein Fernsehapparat. Dann lernt ihr, dass es keine Zwerge gibt und keine Riesen. Eure Vorstellungen werden immer kleiner und euer Wissen immer größer. Ist das richtig?«
»Ja«, flüsterte ich, und noch leiser: »Aber es ist doch auch nicht schlecht, wenn man wächst und lernt und die Welt versteht und …«
Er redete weiter: »Älter werdet ihr. Am Anfang wolltet ihr noch Feuerwehrmänner werden oder ganz was anderes und Krankenschwestern oder ganz was anderes, und eines Tages seid ihr dann Feuerwehrmänner und Krankenschwestern. Und ganz was anderes könnt ihr nicht mehr werden, dazu ist es zu spät. Das ist auch ein Kleinerwerden, nicht?«
»Ach ja, ja«, seufzte ich.
»Nicht so ein schönes wie bei uns«, sagte der kleine, fette König.Er biss ein letztes Mal von dem Gummibärchen ab. »Tut mir leid für dich, na, für euch alle natürlich.« Dann stand er auf, quetschte seinen Bauch durch einen Spalt zwischen meinem Bücherregal und der Wand und verschwand wieder aus dem Zimmer, wie immer, ohne Gruß und um ein winziges Winziges kleiner.
I ch hatte einmal eine Zeit, in der ich oft traurig war, so traurig, dass ich abends, wenn es dunkel wurde, allein durch die Stadt ging und froh war, wenn es regnete. Alles war düster und nass in den Straßen, und meine Traurigkeit spiegelte sich in den Pfützen, und dieses Spiegelbild tröstete mich. Ich fühlte mich dann nicht so allein.
Wenn ich genug herumgegangen war, kletterte ich wieder die alte Holztreppe in meine Wohnung hinauf und setzte mich auf einen Stuhl. Einmal, als das so war, kam aus dem kleinen Spalt zwischen Bücherregal und Wand der König Dezember hervor und sagte: »Wo warst du?«
»Ach…«, sagte ich.
»Und wie geht es dir?«
Ich sagte: »Aaaaach…«
»Was willst du jetzt tun?«
»Schlafen«, sagte ich.
»Komm noch ein bisschen zu mir«, sagte der König Dezember.
»Wie soll ich zu dir kommen?«, sagte ich. »Du wohnst hinter einem Regal, und dorthin kommt man nur durch eine kleine Spalte,und für die bin ich viel zu groß, selbst um diese Zeit.« Es ist nämlich so, dass ich abends fünf Zentimeter kleiner bin als morgens, wenn der Schlaf mich gedehnt und auseinandergezogen hat. Abends bin ich vom Leben zusammengedrückt. Aber eben nicht klein genug, um den König Dezember hinter seinem kleinen Mauerritz zu besuchen, dachte ich.
»Du hast es ja noch nicht versucht«, sagte der König. »Du musst dich vor meiner Wohnung auf den Bauch legen, und dann wirst du schon sehen.«
Ich legte mich auf den
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