Der kleine Koenig Dezember
der König, und er wollte noch etwas hinzufügen, aber da sah er schon einen anderen Mann, der eine dunkle Brille trug und einen Hut mit breiter Krempe. Er ging so dicht an den Wänden der Häuser entlang, dass er Streifen von weißem Putz an seiner Jacke hatte, und immerzu schaute er sich besorgt um.
»Dieser Herr hat Angst vor seiner Nachbarin«, sagte der König. »Sie liebt ihn und ist immerzu auf der Suche nach ihm, und sieht sie in seiner Wohnung Licht, klingelt sie sofort. Einmal hat sie sogar schon die Tür einzurennen versucht. Er öffnete sie im selben Moment. Die Frau raste ins Zimmer hinein, und er flüchtete an ihr vorbei hinaus auf die Straße. Heute lebt er nur noch ganz still vor sich hin, wenn er zu Hause ist, und weil man von ihrer Wohnung aus das Licht in seiner Küche sehen kann, kocht er abends im Dunkeln.«
»Warum sucht er sich nicht eine andere Wohnung?«, fragte ich.
Der König sah mich verächtlich an, dann sagte er: »Eine andere Wohnung? Heißt diese Stadt nicht München?«
»Ja«, antwortete ich, und der König sagte: »Nur weil du deinen wirklichkeitsfreien Tag hast, brauchst du nicht gleich den ganzen Wohnungsmarkt zu vergessen.«
Schließlich kam uns ein unrasierter Mann mit grauen Stoppeln auf dem Kopf entgegen, der ein langes weißes Hemd trug und Sandalen an den bloßen Füßen hatte. Er ging mitten auf der Straße.
»Das ist der Dichter«, sagte der kleine König. »Er beruhigt den Verkehr.« Der Mann hatte die Arme weit ausgebreitet wie ein Pfarrer,der die Gemeinde segnet. Die anderen Leute beachteten ihn nicht und gingen weiter, ohne aufzublicken. Die Autos fuhren langsam links und rechts an dem Mann vorbei.
»Der Dichter dichtet in der Nacht«, sagte der König, »und morgens kehrt er für einige Stunden in die Welt zurück und will raus und etwas für die anderen tun, und deshalb beruhigt er den Verkehr. Ein merkwürdiger Mensch, nicht?«
»Sehr merkwürdig«, sagte ich. »Noch merkwürdiger ist, dass ich ihn bisher nie gesehen habe.«
»Du bist ja auch noch nie mit mir diesen Weg gegangen«, sagte der König. »Glaubst du eigentlich, dass es in dieser Gegend Drachen gibt?«
»Drachen?«, sagte ich. »Wieso sollte es hier Drachen geben? Hör zu, es ist schon unwahrscheinlich genug, dass es kleine Könige gibt und Pudelrettungsmaschinen und verkehrsberuhigende Dichter. Muss es auch noch Drachen geben? Wir haben keine mehr, und in dieser Gegend schon gar nicht.«
»Das ist wahrscheinlich ein Irrtum«, sagte der kleine König. Wir waren inzwischen an der Blumenstraße angekommen. Dezember streckte seinen rechten Arm aus und zeigte Richtung Viktualienmarkt. »Da ist zum Beispiel einer.«
Ich blickte zum Markt hinunter. Tatsächlich stand zwischen den Autos, die wie immer darauf warteten, in die Frauenstraße einbiegen zu können, ein riesiger hässlicher Drache, ungefähr so lang wie ein Lastwagen und so blau wie ein Autobus. Sein Körper war übersät mit vielen runden Röhrchen, klein wie Strohhalme, aus denenAuspuffgase rauchten. Er schnaubte Feuer aus seinen Nüstern, so heiß und laut, dass ich das Gefühl hatte, ein Hubschrauber fliege über uns hinweg. Trotzdem schien ihn niemand wahrzunehmen. Langsam rückte er mit den Autos vor, bog wie sie rechts um die Ecke und verschwand hinter den Häusern.
»Erstaunlich«, sagte ich und glotzte minutenlang dorthin, wo der Drache gestanden hatte. »Was tut ein Drache hier?«
»Er greift Menschen an, die auf dem Weg ins Büro sind«, sagte der König. »Er will nicht, dass sie dorthin gehen, und versucht, sie aufzuhalten.«
»Mich hat er noch nie angegriffen«, sagte ich.
»Glaubst du wirklich?«, fragte der König. »Hast du noch nie einen Widerstand gespürt auf deinem Weg? So als ob etwas an dir zieht und dich nicht vorwärtsgehen lassen will? Oder hast du niemals, während du unterwegs warst, einen Ring um die Brust gefühlt?«
»Doch, natürlich«, sagte ich. »Ich dachte, ich hätte keine Lust oder würde mich fürchten vor meinem Chef oder hätte Angst, dass ich meine Arbeit nicht schaffe.«
»Das war der Drache«, sagte der König. »Er hat an dir gezogen oder seine Arme von hinten fest um deine Brust geschlungen.«
»Aber ich habe ihn nie gesehen«, sagte ich. »Und warum greift er mich heute nicht an?«
»Weil du nicht ins Büro willst«, sagte der König.
»Aha!«, sagte ich, und wir gingen noch ein bisschen weiter und dann ins Café. Der König saß in der Tasche und guckte die ganze Zeit hinaus. Ich
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