Der kleine Koenig Dezember
Bauch. Das Parkett knarzte, und der König verschwand in seinem Loch.
»Jetzt steck deine beiden Zeigefinger in den Ritz«, rief er von innen, »und zieh dich langsam zu mir herein.« Ich bekam die beiden Finger gerade so in die Öffnung, hakte sie rechts und links von innen gegen die Wand und zog. Diesmal knarzte das Regal, und ich sah neben meinem Kopf eine ziemlich große Staubfluse und dachte noch, dass ich mal wieder saubermachen müsste, die Staubflusen wären ja schon so groß wie mein Kopf – da rutschte der Kopf schon durch den Spalt hindurch und der Rest von mir hinterher, und ich lag auf dem Bauch in der Wohnung des Königs.
»Donnerwetter!«, rief ich. »Das hätte ich nicht gedacht.«
Ich stand auf. Der König war jetzt ein bisschen größer als ich, aber seine Wohnung war auch für jemand, der so winzig ist, ungewöhnlich klein. Sie bestand nur aus einem Zimmer, und wenn der König fünf Schritte machte, hatte er es schon ganz durchquert.
»Ist das alles?«, fragte ich. »Ich meine, ist das deine ganze Wohnung?«
»Ja, leider«, seufzte der König. »Das Haus ist schon hundert Jahre alt und sehr müde, und es schrumpft von Jahr zu Jahr. Häuser schrumpfen auch, wenn sie müde werden, das wissen nur wenige. Vor fünfzig Jahren war dieses Zimmer noch achtmal so groß.« Er machte eine kleine Pause, dann seufzte er und fügte hinzu: »Ich aber leider auch.«
Ich sah mich um. Der König hatte ein kleines, schmales Bett links vom Eingang stehen, dessen Kissen mit feiner dunkelroter Seide bezogen waren. Im Licht einer Kerze, die auf einem Nachtschränkchen daneben stand, schimmerte sie leicht. Sonst gab eskeine Möbel, nicht einmal einen Stuhl. Aber alle Wände waren bedeckt von dunklen Holzregalen, in denen Schachteln standen, sehr viele kleine Schachteln, ungefähr solche, in die der Juwelier einen Ring tut, damit man ihn jemand anderem schenken kann. Sie waren bunt, die Schachteln, aber nie einfarbig, sondern immer mit Mustern bemalt, Schlangenmustern, Blumenmustern, Mustern mit Häusern und Autos, mit Eisenbahnen und Menschen oder auch mit Drachen und Feen, die spitze Hüte trugen.
»Was bewahrst du in diesen Schachteln auf?«, fragte ich.
»Meine Träume«, sagte der König Dezember.
»Deine Träume!?«, rief ich.
»Alle meine Träume«, sagte der König. »In jeder Schachtel ist ein Traum.«
»Aber wie träumst du deine Träume, wenn du sie in Schachteln hast?«, fragte ich.
»Abends, wenn ich schlafen gehe«, sagte der König, »nehme ich eine Schachtel aus dem Regal, stelle sie neben mein Bett und nehme den Deckel ab. Dann schlafe ich ein und träume. Und morgens, wenn ich aufgewacht bin, bleibe ich noch ein bisschen liegen und erinnere mich an die Nacht. Dann tue ich den Traum wieder in die Schachtel und stelle sie ins Regal zurück.« – »Was hast du letzte Nacht geträumt?«, fragte er.
»Oh, ich weiß nicht mehr viel davon«, sagte ich. »Ich… ich saß … saß in einem Ruderboot und ruderte über einen stillen, schwarzen See. Aber ich kam nirgends an, und während ich ruderte, schaute ich aus einem Fenster, das die ganze Zeit vor meinem Gesicht war – einFenster in einem Ruderboot, komisch, nicht? Ich fand es aber überhaupt nicht komisch, denn ich war die ganze Zeit so traurig, dass ich nur ganz langsam rudern konnte. Durch das Fenster blickte ich hinaus auf einen dunklen See, auf dem wiederum ich selbst in einem Ruderboot saß und durch ein Fenster schaute und mich selbst beim Rudern sah, und so weiter und so weiter.«
»Und was passierte?«, fragte der kleine, fette König. Er hatte die ganze Zeit auf der Bettkante gesessen und mich angeschaut und manchmal leise geschnauft.
»Nichts passierte«, sagte ich. »Ich ruderte dahin und sah mich selbst durch das Fenster bis in die Unendlichkeit hinein rudern.«
»Ojojojojojoj!«, rief der König. »Das ist ja ein Traum für eine ganz große Schachtel!«
»Woher hast du denn deine Schachteln?«, fragte ich. »Sind sie alle voll? Hast du alles schon geträumt, was darin ist?«
»Keineswegs«, sagte der König. »Ich habe sie von meinem Großvater geerbt, dem König Dritter Januar. Er lebte in einem Zimmer wie diesem, denn wir leben alle in Zimmern wie diesem. Das Zimmer war in einem alten Haus, und mein Großvater wurde älter und älter und kleiner und kleiner und das Haus auch und das Zimmer auch. Nur die Schachteln schrumpften nicht, denn Träume bleiben immer groß und brauchen ihren Platz. So lebte mein Opa in seinem
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