Der kleine Koenig von Bombay
ihn ganz verrückt, und dann musste er seinen Forderungen nachgeben, aber zugleich lag in diesem Drängen eine solche Kraft, dass er selbst sich dagegen ganz klein fühlte – es wusste so genau, was es wollte! Er spürte, wie es in seiner Hand größer wurde, während er daran dachte. Es schien sich mit seinem einen Auge lüstern umzuschauen, während es wispelnd Wasser ließ.
Arzees Handy begann plötzlich zu klingeln, und er fischte mit seiner freien Hand danach. Die Armbewegung erzeugte einen Luftzug, so dass die Kerzenflamme verlosch. Er sah, dass der Anruf von Deepak kam – Deepak hatte wohl auf seinem Handy gesehen, dass Arzee versucht hatte, ihn zuerreichen. Hastig nahm Arzee den Anruf an. Im Badezimmerspiegel sah er nur seine Nase und seine Lippen, blass im Licht des Displays.
»Na, was treibst du, kleiner Mann?« Deepaks spöttisches Lachen drang Arzee ans Ohr. Im Dunkeln schien er ganz nah zu sein, so als beobachtete er ihn in diesem doch ziemlich privaten Moment amüsiert von oben.
»Wo – wo bist du, Deepakbhai?«, fragte Arzee und schaute sich dabei um.
»Zu Hause, wo denn sonst? Meine Frau hat gesagt, du wolltest irgendwas Wichtiges mit mir besprechen. Erst rennst du ein halbes Jahr lang vor mir weg, und plötzlich läufst du mir nach. Was juckt dich denn heute im Arsch?«
»Nein, Deepakbhai, so ist das nicht. Es ist einfach so, dass –«
»Vergeude nicht meine Handyminuten – ich zahle für jedes Wort, das du sagst. Lass bleiben, was immer du gerade tust, und komm her. Wenn du in zehn Minuten nicht da bist, mach ich dir nicht mehr auf.«
»Ich bin sofort da, Deepakbhai. Wenn du die Tür aufmachst, werde ich davorstehen. Bis gleich, Deepakbhai.«
Arzee steckte das Handy wieder ein und nestelte grummelnd an seiner Hose. Warum hatte Deepak nicht etwas später nach Hause kommen können? Er fand seine Streichhölzer und zündete die Kerze wieder an, dann wusch er sich die Hände und inspizierte dabei die Flaschen und Tuben auf dem Bord. Die Familie Pir verwendete Colgate-Zahncreme, Lux-Seife, Gesichtswasser von Pears und Rasiercreme von Old Spice. Er nahm die Kerze mit hinaus.
»Ich habe noch etwas Dringendes zu erledigen, Phirozbhai«, sagte er. »Ihr zwei seid mir also noch eine Tasse Teeschuldig. Soll ich … soll ich morgen Abend vorbeikommen? Ich bin ja nun in all den Jahren nie vorbeigekommen, deshalb …«
»Komm«, sagte Phiroz und grunzte. »Und wer kümmert sich um die Vorstellung?«
»Sule! Sule kann doch auch mal was tun.«
»Ja, bitte kommen Sie!«, sagte Shireen.
»Gut. Also, auf Wiedersehen, Miss Shireen. Ich bin überraschend gekommen, und jetzt breche ich noch überraschender auf, aber so bin ich eben! Ihr künftiger Mann kann sich jedenfalls glücklich schätzen, finde ich. Wir sehen uns morgen im Kino, Phirozbhai.«
»Denk an die Uhr«, sagte Phiroz. »Wir haben nicht mehr viel Zeit.«
»Ein prima Mädchen«, dachte Arzee, als er hinausging. »Wenn man zu reden weiß, wird es nie langweilig, so viel ist klar. Es gibt immer etwas zu tun. Der Haushalt ist nicht ihre Stärke, aber niemand ist perfekt. Vielleicht kann sie ja gut kochen. Und dass sie einfach nicht vom Balkon gekommen ist – es war, wie mit einem Mädchen im
purdah
9 zu sprechen. Vielleicht ist sie ja hässlich – vielleicht hat Phiroz sie deshalb all die Jahre nicht unter die Haube gebracht. So, Phiroz’ Wohnung liegt auf dieser Seite, und der Balkon geht nach vorn hinaus. Vielleicht guckt sie ja runter, wenn ich plötzlich ihren Namen rufe.«
Er trat aus dem Gebäude und schaute zu Phiroz’ Wohnung hoch. Er musste gar nicht rufen, denn Shireen saß am Balkonfenster,das Gesicht zum Mond am Abendhimmel erhoben. Sie trug eine ärmellose weiße Bluse, ihr Haar war zum Pferdeschwanz gebunden, und ihre Miene war heiter. Sie hatte eine völlig andere Nase als Phiroz. Entzückt von diesem Bild blieb Arzee stehen. Die Finger des Mädchens wanderten zu einem Anhänger, den sie um den Hals trug, dann tasteten sie auf dem Fensterbrett nach etwas. Ein Stückchen Brot flog hinab und traf ihn an der Schulter, doch das Mädchen schaute nicht hinunter.
Arzee begriff, dass Phiroz’ Tochter blind war.
Achtes Kapitel
Deepakbhai, Arbeit, Liebe und Gott
I ch hätte nach Dubai gehen sollen, Deepakbhai. Ich hätte einfach nach Dubai gehen sollen. Mit neunzehn habe ich dort eine Stelle in einem Fünf-Sterne-Hotel angeboten bekommen, aber da ich im Noor untergekommen war, habe ich keinen weiteren Gedanken darauf
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